Es ist ein seltsames Gefühl, durch das eigene Gedächtnis zu wandern, nur um festzustellen, dass die ersten Lebensjahre wie in Nebel gehüllt sind. Wir versuchen, in den Tiefen unseres inneren Archivs zu kramen, doch was wir finden, sind oft nur bruchstückhafte Bilder, verschwommene Gefühle oder flüchtige Eindrücke. Der erste Geburtstagskuchen? Fehlanzeige. Die Freude über das erste Mal Schnee? Vielleicht – aber vielleicht auch nicht. Es ist, als hätten wir die ersten Kapitel unseres Lebens übersprungen, und niemand hat uns den Grund dafür verraten.
Dabei beginnt das Leben doch mit einem Feuerwerk an Eindrücken. Babys saugen jeden Reiz auf wie ein Schwamm. Die Welt ist neu, aufregend und voller Überraschungen – und trotzdem bleibt nichts davon hängen. Dieses Phänomen, in der Wissenschaft als infantile Amnesie bekannt, ist gleichzeitig faszinierend und frustrierend. Schließlich wollen wir wissen, wer wir waren, bevor wir zu dem wurden, was wir heute sind.
Ein Grund für diese Erinnerungslücke liegt im rasanten Wachstum des Gehirns in den ersten Lebensjahren. Überlege einmal, du renovierst ein Haus, während du noch darin wohnst. Das Chaos, das entsteht, sorgt dafür, dass manche Dinge einfach verschwinden, während neue Strukturen geschaffen werden. Ähnlich arbeitet das Gehirn eines Kleinkindes. Es wächst, verknüpft und formt sich ständig neu. In diesem wilden Umbau gehen frühe Erinnerungen oft verloren, weil die Bereiche, die für das Langzeitgedächtnis zuständig sind, erst später ihre volle Funktion entwickeln.
Aber nicht nur die Gehirnstruktur spielt eine Rolle. Auch die Sprache ist ein entscheidender Faktor. Erinnerungen sind nicht nur Bilder in unserem Kopf, sondern auch Geschichten, die wir uns selbst erzählen. Ein Baby, das noch keine Worte kennt, hat Schwierigkeiten, Erlebtes in einer Form abzuspeichern, die später abrufbar ist. Erinnerungen brauchen Sprache, um zu überleben – ohne sie zerfallen sie wie Pollen im Wind.
Trotzdem gibt es manchmal kleine Inseln im Meer des Vergessens. Vielleicht erinnerst du dich an das warme Gefühl, in den Armen deiner Mutter zu liegen, ohne dass du Worte dafür hattest. Oder an das Geräusch eines alten Schaukelstuhls, der im Wohnzimmer knarrte. Diese Fragmente überleben, weil sie mit starken Emotionen oder wiederkehrenden Mustern verknüpft sind. Emotionen wirken wie ein Klebstoff für das Gedächtnis, und je intensiver ein Moment, desto wahrscheinlicher bleibt er haften.
Doch was macht eine Erinnerung zu einer bleibenden? Die Wissenschaft sagt, dass Wiederholung der Schlüssel ist. Die Geschichten, die uns unsere Eltern immer wieder erzählt haben – „Weißt du noch, als du deinen ersten Hund gesehen hast?“ – werden irgendwann zu unseren eigenen Erinnerungen, selbst wenn wir den Moment ursprünglich vergessen hatten. Es ist ein faszinierendes Wechselspiel: Erinnerungen entstehen nicht nur in unserem Kopf, sondern werden auch von außen geprägt.
Und so sitzen wir heute da, inmitten von Erinnerungen, die wir für unsere eigenen halten, und versuchen, die Lücken zu füllen. Vielleicht erzählst du deinem Kind irgendwann von dem Tag, an dem es zum ersten Mal den Ozean sah. Es wird sich nicht daran erinnern – nicht direkt. Aber wenn du es oft genug erzählst, wird es diese Geschichte eines Tages mit einem Lächeln als seine eigene betrachten. Es ist ein kleiner Trost, zu wissen, dass selbst das Vergessen einen Sinn hat. Denn in den Lücken unserer frühen Jahre liegt Platz für die Geschichten, die wir noch erzählen werden.