Es gibt einen Zustand, der den Menschen verwandelt, ohne dass er es sofort bemerkt. Er stört den Schlaf, verändert den Klang des Morgens, lässt Farben heller erscheinen und Zeit schneller vergehen. Man erkennt ihn nicht gleich, aber man spürt, dass etwas anders ist. Es ist, als wäre das eigene Leben plötzlich ein wenig mehr Film geworden, mit einem leichten Glanz über den Bildern. Die Rede ist von der Liebe – oder, präziser gesagt, vom Zustand des Verliebtseins.

Was der Volksmund oft kitschig verklärt, hat die Wissenschaft längst nüchtern durchleuchtet: Im Zustand intensiver Zuneigung produziert das Gehirn eine Art chemisches Feuerwerk – Dopamin, Oxytocin, Serotonin – Hormone, die uns wie auf einer inneren Achterbahn fahren lassen. Aber so viel zur Biologie. Die Wahrheit ist: Wer sich verliebt, glaubt nicht, dass ein biochemischer Prozess abläuft. Er glaubt an das Wunder.

Und hier beginnt die eigentliche Geschichte. Denn während das Gehirn seine Stoffe ausschüttet, beginnt das Herz – dieser poetisch so überladene Muskel – plötzlich, mitzureden. Entscheidungen, die eben noch rational waren, weichen intuitiven Eingebungen. Man nimmt Umwege, nur um kurz gesehen zu werden. Man schreibt Nachrichten, löscht sie wieder, schreibt sie neu – weil ein einfacher Satz plötzlich mehr wiegen kann als ein ganzer Roman.

Der Alltag wird nebensächlich. Rechnungen, Verpflichtungen, der tropfende Wasserhahn in der Küche – alles wird zu Statisten in einem Stück, dessen Hauptrolle nun „wir“ heißt. Liebe ist wie eine Anomalie im Raum-Zeit-Gefüge der eigenen Welt – eine Störung, die sich richtig anfühlt.

Und doch: Der Satz, dass es „nur die Liebe gibt und die, die lieben“ – klingt beinahe trotzig in einer Welt, in der alles vermessen, verglichen, bewertet wird. Bildung, Einkommen, Status, Pläne. Die Liebe aber entzieht sich all dem. Sie fragt nicht nach Lebenslauf, Kontostand oder Karrierepfad. Sie ist da – und reicht sich selbst als Begründung. Das ist ihre Schönheit. Und auch ihre Grausamkeit.

Denn wer liebt, macht sich verletzlich. Und genau darin liegt vielleicht das größte Paradox: Die Liebe macht uns stark, indem sie uns schwach werden lässt. Sie entwaffnet, sie entkleidet – nicht nur körperlich, sondern emotional. Und das ist schwer auszuhalten für eine Gesellschaft, die auf Kontrolle, Optimierung und Selbstbeherrschung setzt. Die Liebe hingegen fragt: Wie sehr kannst du dich fallen lassen?

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Die großen Bewegungen, Umbrüche, sogar Revolutionen – oft wurden sie von der Liebe getragen oder durch sie entfacht. Nicht selten steht am Anfang ein Gefühl, das keinen logischen Plan kennt, aber den Mut aufbringt, gegen jede Wahrscheinlichkeit für jemanden einzustehen. Es sind diese Liebenden, die die Welt leiser oder lauter machen, je nachdem, was sie brauchen.

Im Kleinen ist es nicht anders. Die Mutter, die nachts wach bleibt. Der alte Mann, der seiner Frau mit zittrigen Händen den Tee kocht. Das Mädchen, das für den Jungen auf dem Pausenhof ihre Schokolade opfert. Alles Akteure in einem ungeschriebenen Theaterstück, das keine Kulisse braucht – nur ein Herz, das bereit ist, zu schlagen, auch wenn es weh tun könnte.

Und ja, all das andere – Geld, Erfolg, Macht, Pläne – ist nicht unwichtig. Aber es ist eben das: das Andere. Es ist die Verpackung, nicht der Inhalt. Die Dekoration, nicht der Kern. Teferruat – wie der Dichter sagen würde. Die Liebe ist nicht alles, was zählt. Aber ohne sie zählt alles andere ein bisschen weniger.

Vielleicht braucht es in dieser durchgetakteten, datengetriebenen Zeit wieder mehr Menschen, die nicht fragen: Was bringt mir das?, sondern: Wen liebe ich – und was bin ich bereit, dafür loszulassen? Vielleicht sind es genau diese Menschen, die im Kleinen die Welt neu ordnen, weil sie sich trauen, sie nicht zu berechnen.

Am Ende bleibt vielleicht nur eines: die Liebe – und die, die sie wagen. Alles andere ist bloß Fußnote.

Von Selma Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner