Es gibt diese seltenen Momente, in denen die Welt plötzlich klein und ganz groß zugleich erscheint. Wenn Sprachen durcheinanderfließen wie ein improvisiertes Jazz-Stück, wenn Kinder mit unbekanntem Akzent lachen, als wären sie auf demselben Spielplatz aufgewachsen – obwohl sie sich gerade erst getroffen haben. Wenn sich der Duft von frisch gebackenem Fladenbrot mit elektronischen Beats vermischt, und irgendwo zwischen Grillrauch und Gitarrenklängen die Menschen aufhören, nach Unterschieden zu suchen, weil sie gerade damit beschäftigt sind, Gemeinsamkeiten zu feiern.

Solche Momente entstehen nicht durch Zufall. Sie sind gewollt. Sie sind gemacht – mit Liebe, mit Musik, mit offenen Armen. So wie beim Istanbul Festival in Düsseldorf, einem Fest, das mehr war als nur ein Fest. Es war eine Erinnerung daran, dass kulturelle Vielfalt nicht nur ein Schlagwort in politischen Sonntagsreden ist, sondern gelebte Realität, wenn man sie lässt. Es war ein Tag, an dem Menschen sich begegnet sind, nicht weil sie mussten, sondern weil sie wollten. Und weil sie sich etwas zu geben hatten, das kein Geld der Welt kaufen kann: Zeit, Offenheit, Geschichten.

Wissenschaftlich gesehen ist der Mensch ein soziales Wesen. Und doch verbringen wir unsere Tage immer häufiger in digitalen Schneekugeln, in denen der Algorithmus entscheidet, was zu uns passt – oder eben nicht. Umso wichtiger sind reale Orte, die diesen Filter durchbrechen. Orte, die keine Eintrittskarte zur Zugehörigkeit verlangen. Und die Erkenntnisse der modernen Sozialpsychologie geben genau das her: Je häufiger Menschen in interkulturelle Begegnungen treten, desto weniger Vorurteile entwickeln sie – und desto mehr Empathie entsteht. Das klingt einfach. Ist es aber nicht. Es braucht Räume dafür. Und vor allem: Gelegenheiten.

Denn wer nie den Geschmack von Simit gekostet hat, der kann die Kindheitserinnerung eines türkischen Großvaters nicht schmecken. Wer nie gesehen hat, wie sich ein Saz-Spieler in seine Musik hineinlegt, der wird nie verstehen, warum man manchmal nicht mit Worten sprechen muss. Und wer nie erlebt hat, wie sich ein internationaler DJ-Set  mit dem Hüftschwung einer Düsseldorfer Rentnerin verbindet, der hat noch nicht gesehen, wie Versöhnung aussehen kann.

Dabei geht es nicht darum, Unterschiede wegzuwischen. Im Gegenteil. Die Unterschiede machen die Sache doch erst schön. Es geht darum, ihnen mit Neugier statt mit Abgrenzung zu begegnen. Darin steckt die eigentliche Kraft von Festivals wie diesem: Sie schaffen Erlebnisse, in denen das Fremde nicht bedrohlich, sondern bereichernd ist. Sie führen uns vor Augen, dass Kultur nicht besessen, sondern geteilt wird. Dass Musik keine Grenzen kennt – und Essen sowieso nicht.

Der Mensch ist kein statisches Wesen. Er wächst mit dem, was er erlebt. Wer also glaubt, die eigene Identität verliere an Klarheit, wenn sie sich mit anderen mischt, der hat noch nie gesehen, wie leuchtend Farben sein können, wenn man sie nicht voneinander trennt. Multikulturalität ist kein Modetrend. Sie ist gelebte Realität in jeder U-Bahn, auf jedem Pausenhof, an jedem Küchentisch dieser Stadt. Die Frage ist nicht, ob wir sie haben wollen. Die Frage ist, was wir daraus machen.

Vielleicht ist es genau das, was solche Feste uns zeigen: Dass Zusammenleben nicht aus Diskussionen über Integration entsteht, sondern aus Gesprächen beim Tee. Dass Respekt nicht gepredigt, sondern gespürt wird – wenn jemand einem Kind das letzte Stück Baklava überlässt oder sich zwei Fremde im Rhythmus des gleichen Songs verlieren. Es sind keine großen Gesten, keine politischen Programme. Es ist das einfache Menschsein, das plötzlich so komplex und wunderschön wirkt, wenn man es feiert, anstatt es zu kontrollieren.

Und wenn ein Festival für einen einzigen Tag all das schafft – was könnte dann passieren, wenn es jeden Monat solche Orte gäbe? Wenn jedes Viertel, jede Stadt, jedes Dorf einmal im Jahr sich selbst in anderen spiegelt? Dann würde vielleicht etwas entstehen, das größer ist als Toleranz: Vertrauen. Nähe. Gemeinschaft. Nicht als Ideal, sondern als Alltag.

Vielleicht braucht es dafür nicht mehr als ein paar Lichterketten, einen Grill, ein bisschen Musik – und die Bereitschaft, den anderen nicht als Fremden, sondern als Möglichkeit zu sehen. Dann tanzt das Essen. Dann schmeckt die Musik. Und dann fühlt sich die Welt für einen Moment so an, wie sie sein könnte. Und das ist mehr als genug.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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