Es ist paradox. Je gleichberechtigter eine Gesellschaft wird, desto größer scheint der Druck auf den Mann zu wachsen, stark, dominant, ehrgeizig und unangreifbar zu sein – ganz gleich, ob ihm danach ist oder nicht. Während die eine Hälfte der Menschheit schrittweise lernt, sich von alten Rollenklischees zu befreien, bekommt die andere Hälfte neue Fesseln angelegt. Feinere, unsichtbare, aber nicht weniger einengende. Nicht von außen geschmiedet – sondern tief eingebrannt in Erwartungen, Blicken, Kommentaren. In all den unausgesprochenen Normen, die darüber bestimmen, was ein Mann in dieser Welt noch sein darf – und was besser nicht.

Wer sich durch die Welt bewegt, mit offenen Augen und ein bisschen Gespür für Zwischentöne, merkt schnell: Es gibt kaum ein Land, in dem man als Mann mit Schwäche, Sanftheit oder Verletzlichkeit Pluspunkte sammelt. Im Gegenteil – selbst dort, wo Gleichstellung längst kein politischer Kampfbegriff mehr ist, sondern Teil des nationalen Selbstverständnisses, wirken manche sozialen Spielregeln wie aus dem 19. Jahrhundert. Nur besser versteckt. Wer heute als Mann sagt, dass er unsicher ist, weint, keine Karriere will oder sich lieber um Kinder kümmert, bekommt nicht unbedingt einen Applaus. Viel eher bekommt er ein Stirnrunzeln. Und im Subtext vielleicht sogar: „Schon okay. Aber komm mal klar.“

Da steht er also: der moderne Mann, umgeben von Gleichberechtigung und gleichzeitig auf einem imaginären Podest, das er nicht verlassen darf, ohne dass es kracht. Denn das ist das heimtückische Spiel: Je gerechter eine Gesellschaft zu sein scheint, desto größer ist auch der ungesagte Druck, dass Männer doch bitte wenigstens ihren Status behalten. Als sei Gleichstellung ein Nullsummenspiel – mehr Platz für Frauen, weniger für Männer. Mehr Vielfalt auf Führungsetagen, weniger Raum für stille Träume. Plötzlich scheint nicht mehr nur das alte Patriarchat etwas von ihnen zu wollen – sondern auch die neue, aufgeklärte Gesellschaft. Und sie erwartet, dass sie jetzt nicht nur gewinnen, sondern dabei auch noch sensibel, reflektiert und feministisch korrekt sind. Wer da nicht aufpasst, wird zum Status-Jongleur: stark, aber bitte nicht toxisch. Erfolgreich, aber bitte nicht übergriffig. Emotional, aber bloß nicht schwach.

Natürlich verändert sich viel. Und das ist gut. Aber nicht alle Veränderungen befreien. Manche machen nur neue Regeln – andere Regeln, subtilere, aber Regeln bleiben es dennoch. Es gibt kein offizielles Gesetz, das Männern verbietet, sensibel oder zurückhaltend zu sein. Aber es gibt einen ganzen Chor an unhörbaren Stimmen, die flüstern: „Du musst was darstellen. Du darfst dir nichts anmerken lassen. Stärke ist Pflicht.“ Und dieser Chor singt erstaunlich laut – gerade dort, wo man ihn eigentlich nicht vermuten würde: in Ländern mit hoher Gleichberechtigung. Skurril, nicht?

Ein Mann in Schweden, der in Teilzeit arbeiten will, weil er mehr Zeit mit seinem Kind verbringen möchte, wird vielleicht auf dem Papier unterstützt – aber wer flüstert ihm nachts ins Ohr, dass er damit möglicherweise die ungeschriebene Männlichkeitsprüfung nicht besteht? Wer macht ihm das Gefühl, dass seine Entscheidung nicht gleichwertig ist, sondern nur geduldet? Vielleicht niemand. Vielleicht aber auch: alle.

Der Anspruch an Männer hat sich nicht etwa aufgelöst – er hat sich verschoben. Früher war Männlichkeit Pflicht, heute ist sie Option – aber wehe, man wählt sie ab. Gerade da, wo Gleichstellung großgeschrieben wird, wird das Männerbild oft paradoxerweise wieder strenger. Nicht weil jemand böse Absichten hat. Sondern weil der alte Status, diese unsichtbare Krone, eben nicht einfach abgenommen und beiseitegelegt werden kann. Er wird weitergereicht – von Generation zu Generation, von Schule zu Schule, von Kollegen zu Kollegen.

Und was bedeutet das für Gleichberechtigung? Ganz einfach: Sie bleibt unvollständig, solange sie nur an der weiblichen Selbstermächtigung arbeitet und nicht zugleich den männlichen Statusdruck abbaut. Es reicht nicht, Mädchen zu sagen, sie könnten alles werden. Man muss auch Jungen sagen, dass sie nichts beweisen müssen. Dass es okay ist, nicht hoch hinaus zu wollen. Dass Stärke nicht immer laut sein muss. Und dass Würde auch darin liegt, leise zu leben – ohne Wettbewerb, ohne Alpha-Gesten, ohne Titel.

Wenn Männer aufhören dürfen, sich über ihren Status zu definieren, gewinnen am Ende alle. Frauen, die keine männliche Härte mehr fürchten müssen. Männer, die endlich durchatmen können. Und Gesellschaften, die erkennen: Wahre Gleichheit beginnt nicht da, wo alle dieselben Chancen haben. Sondern da, wo niemand mehr Angst hat, seinen Platz zu verlieren, wenn andere ihren finden.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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