Eltern kennen ihre Kinder am besten, oder? In der vertrauten Umgebung des Familienlebens offenbaren Kinder oft Seiten von sich, die im schulischen Kontext verborgen bleiben. Doch während den  Elternsprechtagen, bei denen Lehrer ihre Eindrücke teilen, kann bei Eltern oft Verwunderung aufkommen: „Das klingt ja gar nicht nach meinem Kind!“ Dieses Phänomen ist nicht nur üblich, sondern bietet auch eine faszinierende Einsicht in die unterschiedlichen Perspektiven, die Lehrer und Eltern auf die gleichen Kinder haben.

Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von Eltern und Lehrern ist nicht ungewöhnlich und keinesfalls ein Zeichen dafür, dass eine der beiden Seiten ‚falsch‘ liegt. Vielmehr geht es um verschiedene Beobachtungskontexte. In der Schule sind Kinder Teil einer größeren Gruppe und interagieren mit verschiedenen Autoritätspersonen sowie Gleichaltrigen in einem formal strukturierten Umfeld. Zu Hause sind die Interaktionen oft entspannter, und die Kinder können sich anders verhalten, ohne die Erwartungen und Strukturen, die in der Schule herrschen.

Lehrer, die täglich Dutzende von Schülern unterrichten, entwickeln eine Fähigkeit, Verhaltensmuster schnell zu erkennen und zu beurteilen. Diese Einschätzungen sind unerlässlich, um den Unterricht effektiv zu gestalten und auf die Bedürfnisse der Schüler einzugehen. Diese Beurteilungen können jedoch zwangsläufig verallgemeinernd sein und vielleicht nicht jede Nuance des individuellen Verhaltens eines Kindes erfassen.

Eltern hingegen erleben ihre Kinder in einem Kontinuum von Situationen, das tiefgreifende Einblicke in deren Gefühlswelt und Verhalten ermöglicht. Diese tiefe Kenntnis führt dazu, dass Eltern oft überrascht sind, wenn Lehrer Aspekte ihres Kindes hervorheben, die ihnen nicht bekannt waren. Es ist also nicht so, dass Eltern sich täuschen, sondern sie sehen ihr Kind aus einer anderen, intimeren Perspektive.

In der Entwicklungspsychologie wird betont, wie wichtig es für Kinder ist, sich in verschiedenen Umgebungen unterschiedlich ausdrücken und entwickeln zu können. Diese Fähigkeit, verschiedene Rollen anzunehmen und Verhaltensweisen je nach Kontext zu modifizieren, ist ein Zeichen von sozialer Intelligenz und Anpassungsfähigkeit. Jedoch kann eine zu große Diskrepanz zwischen dem Verhalten zu Hause und in der Schule auf tiefer liegende Probleme hinweisen, wie etwa Stress, Angst oder Anpassungsschwierigkeiten, die zu einer ungesunden Entwicklung führen können. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Kinder, die sich in der Schule stark anpassen müssen und dabei ihre Authentizität verlieren, Risiken für ihre psychische Gesundheit erhöhen können. Es ist daher entscheidend, dass Eltern aufmerksam auf Anzeichen achten, die darauf hindeuten könnten, dass ihr Kind Schwierigkeiten hat, seine Identität in verschiedenen Rollen zu integrieren.

Eltern können ihre Kinder unterstützen, indem sie eine starke, vertrauensvolle Beziehung aufbauen, die es dem Kind ermöglicht, offen über seine Erlebnisse und Gefühle zu sprechen. Das aktive Zuhören und das Anbieten einer sicheren, unterstützenden Umgebung zu Hause kann Kindern helfen, sich vollständiger und selbstbewusster zu fühlen. Wenn Eltern erkennen, dass ihr Kind bestimmte Facetten seiner Persönlichkeit in der Schule nicht zeigt, kann dies ein Anlass sein, gemeinsam Strategien zu entwickeln, um das Selbstvertrauen des Kindes zu stärken und ihm zu helfen, sich in der Schule authentischer auszudrücken. In einigen Fällen kann auch die Zusammenarbeit mit Schulpsychologen oder Beratern sinnvoll sein, um individuelle Herausforderungen des Kindes gezielt anzugehen und zu bewältigen. Solche Maßnahmen tragen dazu bei, dass Kinder lernen, sich in allen Lebensbereichen gesund zu entwickeln und sowohl schulische als auch persönliche Herausforderungen erfolgreich zu meistern.


Die Herausforderung und zugleich die Chance liegt darin, diese unterschiedlichen Perspektiven zu vereinen. Kommunikation spielt hier eine Schlüsselrolle. Regelmäßiger Austausch zwischen Eltern und Lehrern kann dazu beitragen, ein vollständigeres Bild des Kindes zu entwickeln. Lehrer können von den detaillierten Beobachtungen der Eltern profitieren, während Eltern Einblicke in das Sozialverhalten und die Leistungen ihres Kindes in der Schule gewinnen können.

Was kann also getan werden, um diese Diskrepanz zu überbrücken? Eine offene, vorurteilsfreie Kommunikation ist essenziell. Eltern sollten bereit sein, die Beobachtungen der Lehrer ernst zu nehmen, während Lehrer offen für die Perspektiven der Eltern sein müssen. Workshops oder gemeinsame Veranstaltungen, die sowohl Lehrer als auch Eltern einbeziehen, können ebenfalls hilfreich sein, um das Verständnis füreinander zu vertiefen und gemeinsame Strategien für die Förderung der Kinder zu entwickeln.

Zudem ist es förderlich, wenn Eltern aktiv am Schulleben teilnehmen. So können sie einen direkteren Eindruck von dem Umfeld bekommen, in dem ihr Kind einen großen Teil seines Tages verbringt. Dadurch können sie besser nachvollziehen, welche Verhaltensweisen und Leistungen in der Schule erwartet und wie diese bewertet werden.

Abschließend lässt sich sagen, dass sowohl Eltern als auch Lehrer wichtige Rollen im Leben eines Kindes spielen. Beide Perspektiven sind wertvoll und notwendig, um Kinder ganzheitlich zu verstehen und zu fördern. Indem wir die Vielschichtigkeit der verschiedenen Sichtweisen anerkennen und nutzen, können wir unseren Kindern helfen, sich sowohl zu Hause als auch in der Schule bestmöglich zu entwickeln.

Von Kamuran Cakir

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