Stellen Sie sich ein Mehrfamilienhaus vor, das mehrere Etagen hat. Nun nehmen wir an, dass zwei Personen, eine im Erdgeschoss und eine im obersten Stockwerk, aus ihrem Fenster auf die Straße blicken. Die Person im Erdgeschoss sieht alles hautnah. Sie ist unmittelbar am Geschehen, sieht die Details, hört die Geräusche und spürt vielleicht sogar die Vibrationen von vorbeifahrenden Autos. Aber ihre Sicht ist begrenzt. Sie sieht nur einen kleinen Ausschnitt der Straße, vielleicht den Bürgersteig und ein paar vorbeigehende Menschen. Diese Person bekommt die feinen Nuancen des Alltags mit, erkennt Gesichter und hört Gespräche, doch ihr Blickfeld ist eingeschränkt.

Die Person im obersten Stockwerk hat eine ganz andere Perspektive. Von dort oben kann sie die gesamte Straße überblicken. Sie sieht, wie sich die Menschenmengen bewegen, erkennt Muster und Zusammenhänge, die der Person im Erdgeschoss verborgen bleiben. Diese Person kann sehen, ob ein Stau im Anmarsch ist, ob ein Umzug stattfindet oder ob ein Unfall geschehen ist. Doch was sie nicht sieht, sind die Gesichter der Menschen, die Details der Ereignisse oder die kleinen Zwischenfälle, die sich unten abspielen. Ihr Bild ist umfassender, aber distanzierter.

Diese Metapher lässt sich wunderbar auf viele Bereiche unseres Lebens übertragen. Nehmen wir die Wissenschaft als Beispiel. Ein Forscher, der sich intensiv mit einem speziellen Thema beschäftigt, sieht die Details, die Feinheiten und die kleinen Unterschiede. Er ist tief in die Materie eingetaucht, ähnlich wie die Person im Erdgeschoss. Doch manchmal kann dieser enge Fokus dazu führen, dass das große Ganze aus den Augen verloren wird. Der Forscher im „Erdgeschoss“ könnte wichtige Verbindungen übersehen, die nur sichtbar werden, wenn man einen Schritt zurücktritt und das Gesamtbild betrachtet.

Hier kommt der Forscher im „oberen Stockwerk“ ins Spiel. Dieser hat möglicherweise nicht den tiefen Einblick in die Details eines speziellen Themas, aber er kann übergreifende Muster und Verbindungen erkennen. Er sieht, wie verschiedene Forschungsbereiche zusammenhängen und kann interdisziplinäre Erkenntnisse gewinnen, die dem spezialisierten Forscher verborgen bleiben. Doch auch hier gibt es eine Einschränkung: Der distanzierte Blick kann dazu führen, dass wichtige Details übersehen werden.

Genauso verhält es sich in der Politik, in der Wirtschaft oder sogar im täglichen Leben. Ein Politiker, der eng mit den Bürgern in seinem Wahlkreis zusammenarbeitet, versteht deren Sorgen und Nöte genau. Er kennt die Probleme vor Ort und kann gezielt Lösungen entwickeln. Doch ohne den übergeordneten Blick könnte er größere Zusammenhänge und überregionale Entwicklungen übersehen, die für seine Entscheidungen wichtig sind.

Ein Unternehmensleiter, der die Details des Tagesgeschäfts kennt, kann schnell und effizient auf Probleme reagieren. Doch wenn er nicht auch die langfristige Strategie im Blick hat, könnten wichtige Trends und Marktveränderungen unbemerkt bleiben. Die Balance zwischen Detailwissen und Überblick ist entscheidend für nachhaltigen Erfolg.

Humorvoll betrachtet könnte man sagen, dass es manchmal hilft, einfach das Stockwerk zu wechseln. Wenn wir uns zu sehr in den Details verlieren, hilft ein Blick von oben, um Klarheit zu gewinnen. Und wenn wir vor lauter Überblick die Details vergessen, sollten wir vielleicht wieder näher heranrücken.

Im Grunde geht es darum, flexibel zu bleiben und die Perspektive zu wechseln, je nachdem, was die Situation erfordert. Ob im Erdgeschoss oder im obersten Stockwerk – jede Sichtweise hat ihre Stärken und Schwächen. Die Kunst besteht darin, beide zu nutzen und miteinander zu verbinden. Denn nur so bekommen wir ein vollständiges Bild der Realität, das uns ermöglicht, fundierte und ausgewogene Entscheidungen zu treffen.

Von Selma Cakir

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