Wir alle kennen das Gefühl: Ein Freund hat uns enttäuscht, und die Frustration brodelt in uns. Doch anstatt den Betroffenen direkt damit zu konfrontieren, neigen wir oft dazu, unseren Ärger bei einem anderen Freund abzuladen. Das mag zunächst egoistisch erscheinen, doch Studien zeigen, dass dieses Verhalten unter bestimmten Umständen tatsächlich positive Effekte haben kann – zumindest für uns selbst.

Stellen wir uns vor, Lisa wurde von ihrer besten Freundin Maria versetzt. Wütend und enttäuscht erzählt Lisa ihrem gemeinsamen Freund Alex davon. Interessanterweise könnte Alex nach diesem Gespräch Lisa mehr mögen und Maria weniger, selbst wenn er Maria zuvor genauso gern hatte. Es klingt paradox, aber genau das haben Forscher der University of California, Los Angeles herausgefunden. Indem Lisa ihren Frust bei Alex ablädt, schafft sie eine Art emotionales Band zwischen sich und Alex. Dieses Band kann dazu führen, dass Alex Lisa mehr unterstützt und ihr in Zukunft wohlwollender gegenübersteht.

Natürlich ist es nicht ganz so einfach. Die Studien zeigen, dass dieser Effekt nur eintritt, wenn Lisa ihren Ärger klug zum Ausdruck bringt. Würde sie stattdessen beginnen, Maria offen abzuwerten und schlecht über sie zu reden, könnte das genau den gegenteiligen Effekt haben. Alex könnte denken, dass Lisa übertreibt oder unfair ist, und würde sich eher von ihr abwenden. Es geht also um die richtige Balance: Frust ablassen, aber ohne dabei über die Stränge zu schlagen.

Doch warum funktioniert das überhaupt? Ein möglicher Grund ist, dass wir uns, wenn jemand uns seine Frustration anvertraut, geschmeichelt fühlen. Es zeigt, dass derjenige uns vertraut und uns als nahestehend betrachtet. Gleichzeitig neigen wir dazu, die Zielperson, über die sich beschwert wird, kritischer zu sehen. In gewisser Weise handelt es sich um eine subtile Form des sozialen Wettbewerbs, bei der die Sympathien auf denjenigen übergehen, der sich öffnet.

Aber Vorsicht: Dieses Spiel kann leicht nach hinten losgehen. Wenn der Zuhörer das Gefühl hat, dass es dem Sprecher nicht um ehrliche Gefühle, sondern um Rivalität oder Manipulation geht, kann die Sympathie schnell kippen. Ein weiterer Faktor ist, dass wir uns gut überlegen sollten, bei wem wir unseren Frust abladen. Es könnte sein, dass wir uns bei der falschen Person öffnen, die unser Vertrauen ausnutzt oder uns nicht versteht.

Was bedeutet das für unseren Alltag? Diese Erkenntnisse können uns helfen, strategischer darüber nachzudenken, wie wir unsere Frustrationen kommunizieren. Statt einfach blindlings loszuschimpfen, könnten wir uns fragen, ob das, was wir sagen wollen, wirklich dazu beiträgt, uns besser zu fühlen, ohne dabei andere zu verletzen oder uns in ein schlechtes Licht zu rücken. Wenn wir die richtigen Worte wählen und uns den richtigen Zuhörer aussuchen, kann das Frustablassen sogar dazu führen, dass unsere sozialen
Beziehungen gestärkt werden. Dies erfordert jedoch ein gewisses Fingerspitzengefühl und ein Bewusstsein dafür, wie unser Verhalten auf andere wirkt.

Ein weiterer wesentlicher Punkt ist der, dass es nicht nur darauf ankommt, was wir sagen, sondern auch, warum wir es sagen. Wenn der Zuhörer das Gefühl hat, dass unser Frustablassen eher aus einer heimlichen Rivalität heraus geschieht, kann dies die Sympathien schnell zum Kippen bringen. Plötzlich stehen wir als derjenige da, der manipulative Absichten hat, und nicht mehr als das unschuldige Opfer, das einfach nur Trost sucht.

Es ist also nicht immer der Ärger an sich, der problematisch ist, sondern die Art und Weise, wie wir ihn ausdrücken und die Motive, die dahinter vermutet werden. Wenn wir uns wirklich über einen Freund ärgern, ist es wichtig, dies authentisch und aufrichtig zu tun, ohne den anderen absichtlich schlecht dastehen zu lassen.

In der Praxis bedeutet das, dass wir achtsam sein sollten, wenn wir unseren Ärger bei jemand anderem abladen. Es kann hilfreich sein, sich selbst zu fragen, ob unser Ziel darin besteht, uns wirklich besser zu fühlen, oder ob wir insgeheim hoffen, dass der andere sich auf unsere Seite schlägt. Wenn wir merken, dass wir uns eher in den Wettbewerb begeben, ist es vielleicht klüger, unsere Frustration direkt mit der betroffenen Person zu klären – oder sie einfach in einer gesunden Weise zu verarbeiten, zum Beispiel durch Sport oder Entspannungstechniken.

Und letztlich sollten wir uns bewusst machen, dass auch Freundschaften, so wie alle Beziehungen, von Zeit zu Zeit getestet werden. Ein bisschen Dampf abzulassen kann durchaus entlastend sein und sogar dazu beitragen, Freundschaften zu stärken, wenn es auf die richtige Weise geschieht. Aber wie bei allem im Leben gilt: Die Dosis macht das Gift.

Wenn wir also das nächste Mal in Versuchung geraten, unseren Ärger bei einem Freund abzuladen, sollten wir überlegen, wie wir das auf eine Weise tun können, die unsere Freundschaften nicht nur erhält, sondern möglicherweise sogar vertieft. Denn wer weiß – vielleicht ist das Geheimnis einer langfristig glücklichen Freundschaft genau das richtige Maß an Frust und Versöhnung.

Von Kamuran Cakir

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