Wenn ein kleines Kind in seinem ersten Lebensjahr zwei Figuren betrachtet – eine, die hilft, und eine, die stört – was glaubt man, wird es tun? Wird es die gute Figur wählen, die Unterstützung bietet, oder die andere, die Chaos stiftet? Es ist eine faszinierende Vorstellung: Bereits Babys könnten eine Art moralischen Kompass besitzen, einen Instinkt, der sie zur Güte zieht. Doch wie so oft, wenn wir Menschen genauer betrachten, zeigt sich, dass die Realität komplexer ist als jede einfache Erklärung.

Die Forschung hat uns schon oft gelehrt, dass das menschliche Verhalten tief verwurzelt ist, doch auch von Kultur, Kontext und Erlebnissen geformt wird. Gerade die Frage, ob wir von Geburt an zwischen Gut und Böse unterscheiden können, hat Wissenschaftler und Philosophen seit Jahrhunderten beschäftigt. Die Idee, dass Babys bereits in ihrem allerersten Lebensjahr eine Präferenz für das Gute entwickeln, mag romantisch klingen, doch die neuesten Untersuchungen kratzen an dieser idealisierten Vorstellung.

Ein Beispiel aus dem Alltag kann das gut veranschaulichen: Denken wir an einen überfüllten Supermarkt. Vor uns steht ein Einkaufswagen, den jemand genau in der Mitte des Ganges stehen gelassen hat. Ein anderer Kunde rückt den Wagen beiseite, damit der Weg wieder frei ist. Wen mögen wir wohl intuitiv mehr – den „Helfer“ oder denjenigen, der das Hindernis hinterlassen hat? Und jetzt stellen wir uns vor, dass ein Baby dieselbe Szene beobachtet. Was würde es fühlen? Würde es den Helfer instinktiv sympathisch finden? Oder spielt diese Idee eher in unserem Kopf eine Rolle, weil wir unsere eigenen moralischen Vorstellungen auf das Kind projizieren?

Die jüngste groß angelegte Studie mit Säuglingen zeigt, dass die Antwort darauf gar nicht so eindeutig ist. In einem experimentellen Rahmen sahen Kinder Szenen, in denen Figuren einander halfen oder behinderten. Danach konnten die Kinder zwischen diesen Figuren wählen. Anders als man vielleicht erwartet hätte, bevorzugten sie die guten Figuren nicht unbedingt. Vielmehr schienen sie in etwa gleich häufig zu beiden Figuren zu greifen – und das unabhängig davon, ob es sich um eine soziale Situation oder ein unbelebtes Objekt handelte. Es war, als ob die Babys eher neugierig als moralisch entschieden. Die Wissenschaftler schlossen daraus, dass Babys im Alter von sechs bis zehn Monaten entweder noch keine klare Präferenz für das Gute haben oder dass dieser moralische Instinkt weitaus später entsteht, als bisher vermutet.

Das bringt uns zu einer faszinierenden Frage: Was macht uns moralisch? Wenn wir nicht mit einem moralischen Kompass geboren werden, wie lernen wir dann, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden? Vielleicht liegt der Schlüssel in den kleinen Momenten des Alltags. Kinder beobachten ständig. Sie sehen, wie ihre Eltern auf eine streitende Nachbarin reagieren, wie Menschen in der Bahn miteinander umgehen oder wie jemand reagiert, wenn ihm die Tür vor der Nase zugeknallt wird. Jeder dieser Momente formt, wie wir später mit anderen umgehen.

Stellen wir uns einen anderen Moment vor: Ein Kind sieht, wie ein Freund ein Spielzeug kaputt macht. Es könnte dem Freund helfen, das Spielzeug zu reparieren, oder es könnte das Spielzeug selbst nehmen und behalten. In dieser scheinbar simplen Situation steckt das ganze Universum der Moral. Helfen oder egoistisch sein? Vergeben oder verurteilen? Und vielleicht, nur vielleicht, beginnt die Moral nicht in unseren Genen, sondern in diesen kleinen, wiederholten Entscheidungen.

Das Fazit, das wir aus der Forschung ziehen können, ist mehr als eine wissenschaftliche Erkenntnis. Es ist eine Einladung, unsere eigene Rolle als Vorbilder zu überdenken. Kinder könnten nicht mit einer fertigen Moral geboren werden, aber sie saugen sie auf wie ein Schwamm – aus unserem Verhalten, unseren Reaktionen und den Geschichten, die wir ihnen erzählen. Die gute Nachricht? Es liegt in unserer Hand, die Welt ein bisschen moralischer zu machen. Und das beginnt bei der nächsten Begegnung im Supermarkt oder dem kurzen Moment, in dem wir entscheiden, ob wir das Hindernis aus dem Weg räumen oder einfach daran vorbeigehen.

Von Selma Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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