Familien sind wie ein Mikrokosmos, in dem sich die unterschiedlichsten Persönlichkeiten treffen. Die einen lieben Struktur und Ordnung, die anderen brauchen Chaos und Kreativität, um aufzublühen. Und mitten in diesem Gewusel schleicht sich oft eine leise Frage in die Köpfe von Geschwistern: Bin ich das Lieblingskind? Eine Frage, die gleichzeitig banaler und komplexer kaum sein könnte. Doch sie hat einen Nerv. Und das aus gutem Grund.
Es gibt Momente im Leben, in denen diese Frage eine unsichtbare Last wird. Vielleicht war es der Augenblick, als die ältere Schwester wie selbstverständlich das größere Stück Kuchen bekam, oder als der jüngere Bruder zum dritten Mal aus der Patsche geholfen wurde, während man selbst sich immer tapfer durchkämpfen musste. Für Eltern jedoch, die von Liebe für alle Kinder sprechen, klingt die Vorstellung eines „Lieblingskinds“ oft absurd, wenn nicht sogar verletzend. Schließlich liebt man sie doch alle gleich, oder etwa nicht?
Die Wissenschaft hat sich dieser Frage angenommen, weil sie spürt, wie tief das Thema in unseren Beziehungen verankert ist. Tatsächlich zeigt die Forschung, dass Vorlieben in Familien existieren können, aber sie sind selten schwarz-weiß. Eltern bevorzugen oft nicht ein Kind als solches, sondern bestimmte Eigenschaften. Ein Kind, das gewissenhaft, verantwortungsbewusst und organisiert ist, mag es Eltern leichter machen, sich entspannt zurückzulehnen. Schließlich ist es ein Geschenk, wenn ein Kind selbstständig seine Hausaufgaben erledigt oder sich daran erinnert, den Müll rauszubringen, ohne dass es fünf Erinnerungen braucht.
Humorvoll betrachtet könnte man sagen, dass Eltern manchmal einfach pragmatisch sind: Sie schätzen das Kind, das ihren Alltag weniger kompliziert macht. Aber es gibt auch tieferliegende Gründe. Manche Eltern fühlen sich ihrer Tochter vielleicht näher, weil sie sich in ihr wiedererkennen. Ein anderer bevorzugt unbewusst den Sohn, weil er sich erhofft, dass dieser die Familientradition fortführt. Das ist kein Urteil über den Wert eines Kindes, sondern eher ein Spiegel dessen, wie menschlich und vielschichtig Beziehungen sein können.
Das führt uns zu einem weiteren Punkt: Geschwisterbeziehungen. Die Dynamik zwischen Geschwistern kann durch die gefühlte Bevorzugung eines Kindes stark beeinflusst werden. Manchmal entsteht ein leiser Konkurrenzkampf. Der Ältere wird verantwortlich gemacht, während der Jüngere als „Nesthäkchen“ durchkommt. Oder die introvertierte Schwester fühlt sich übersehen, weil der extrovertierte Bruder mit seinem Charme das Rampenlicht auf sich zieht. Doch hinter diesen Spannungen steckt oft ein noch unausgesprochener Wunsch: gesehen und verstanden zu werden.
Das Thema „Lieblingskind“ geht über das hinaus, was wir oberflächlich wahrnehmen. Es zeigt, wie stark unser Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung ist, besonders von denen, die uns am meisten bedeuten. Und das ist das eigentliche Herzstück der Diskussion: Es geht weniger darum, ob jemand bevorzugt wird, sondern darum, wie wir uns als Individuen innerhalb der Familie wahrgenommen fühlen. Kinder, die glauben, im Schatten zu stehen, kämpfen oft mit Selbstzweifeln. Diejenigen, die das Gefühl haben, im Rampenlicht zu stehen, fühlen sich manchmal von den Erwartungen erdrückt.
Das Gute ist: Eltern können aktiv etwas tun, um die Balance zu halten. Es geht darum, allen Kindern auf Augenhöhe zu begegnen. Das bedeutet nicht, jeden gleich zu behandeln – denn Gleichbehandlung und Gerechtigkeit sind nicht dasselbe. Was zählt, ist das Gefühl, geliebt und wertgeschätzt zu werden, unabhängig von Fehlern oder Unterschieden.
Wenn wir also in den Familienalltag blicken, könnten wir fragen: Ist es wirklich so entscheidend, wer das Lieblingskind ist? Vielleicht ist die wichtigere Frage, ob wir genug tun, um jedem Kind das Gefühl zu geben, dass es für sich einzigartig und unwiederholbar ist. Denn am Ende zählt nicht, wer den größeren Kuchen bekommt, sondern ob jeder weiß, dass er ein Teil eines Puzzles ist, das nur mit ihm vollständig ist.