Es gibt Momente, in denen Kinder in eine Welt voller Konzentration eintauchen, als ob die Zeit stillstünde. Sie malen dann mit der Zunge zwischen den Lippen versunken in ihrem Werk, lösen ein Puzzle, dass alle um sie herum längst aufgegeben haben, oder schaffen es, in kürzester Zeit eine Geschichte aus tausend und einer Fantasie zu erschaffen. Doch kaum betritt ein Erwachsener den Raum, verändert sich etwas. Man sieht es nicht sofort, aber es ist da – eine kleine Bremse im Kopf des Kindes, fast wie ein unsichtbarer Faden, der plötzlich gezogen wird. Die Gedanken stocken, die Finger werden langsamer, der Blick schweift ab. Warum ist das so?

Es ist nicht der Blick der Erwachsenen, der direkt auf das Kind gerichtet ist. Es ist vielmehr das Gefühl, beobachtet zu werden. Dieses Gefühl, dass jemand hinter einem steht und zuschaut. Diese vage Präsenz, die ohne Worte sagt: „Mach es richtig. Keine Fehler.“ Es ist, als ob das Kind in einem unsichtbaren Wettbewerb steht – nicht um die beste Lösung, sondern um die fehlerloseste Ausführung. Es ist eine Herausforderung, bei der es nicht um Kreativität geht, sondern darum, keinen Anlass zur Kritik zu geben.

Man könnte meinen, Kinder seien zu jung, um das zu spüren. Aber sie sind sensibler, als wir ihnen zutrauen. Sie spüren unsere Erwartungen, noch bevor wir sie aussprechen. Und das verändert, wie sie denken und handeln. Es ist, als ob ihre Gedanken nicht mehr frei fließen können, sondern durch ein unsichtbares Sieb gedrückt werden, das nur das „Richtige“ durchlässt.

Man kennt es aus dem Alltag: Das Kind malt in seinem Zimmer stundenlang in allen Farben des Regenbogens. Kaum fragt man jedoch: „Was malst du da?“, wird aus dem bunten Chaos plötzlich ein rotes Haus mit grünem Dach und einem blauen Himmel. Was gerade noch grenzenlose Fantasie war, wird nun zu einer Vorlage aus einem alten Malbuch. Nicht, weil das Kind es so wollte, sondern weil es sich auf einmal an die Erwartungen erinnert, die wir – bewusst oder unbewusst – an seine Werke stellen.

Kinder sind Meister darin, uns zu gefallen. Sie spüren intuitiv, was wir hören und sehen wollen. Und sie lernen schnell, dass Fehler nicht dazugehören. Ein schiefes Haus, ein falsches Wort oder eine verkehrte Rechenaufgabe sind in ihren Augen keine kleinen Missgeschicke, sondern potenzielle Gründe, unsere Stirn in Falten zu legen. Und so setzen sie die unsichtbare Bremse an, um all das zu vermeiden. Sie bremsen ihre Gedanken, bevor sie zu Fehlern werden können.

Das ist kein Vorwurf an die Erwachsenen. Es ist ein Phänomen, das wir alle kennen. Wer hat nicht schon einmal stockend geantwortet, weil der Chef plötzlich hinter einem stand? Oder eine Präsentation verpatzt, weil die Blicke der Zuhörer auf einen gerichtet waren? Der Unterschied ist nur, dass wir gelernt haben, damit umzugehen – zumindest meistens. Kinder jedoch müssen das erst noch lernen.

Vielleicht sollten wir öfter einfach den Raum verlassen, anstatt schützend daneben zu stehen. Vielleicht sollten wir öfter Vertrauen in ihre Fähigkeiten haben, anstatt sie vor Fehlern bewahren zu wollen. Vielleicht sollten wir öfter anerkennen, dass auch Fehler ein Teil des Lernprozesses sind.

Denn in dem Moment, in dem wir den Raum verlassen, lassen wir nicht nur das Kind allein. Wir lassen es frei. Frei, Fehler zu machen. Frei, eigene Wege zu finden. Frei, die unsichtbare Bremse zu lösen und mit voller Geschwindigkeit in seine eigene Gedankenwelt einzutauchen.

Und wer weiß – vielleicht entstehen genau in diesem Moment die schönsten Regenbogenbilder und die kreativsten Lösungen, von denen wir niemals erfahren werden. Und das ist gut so. Denn genau das ist der Zauber des kindlichen Denkens.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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