Es gibt eine uralte Weisheit, die besagt, dass man am meisten an anderen bemängelt, was man an sich selbst nicht sehen möchte. Es ist wie ein Spiegel, der keine Reflexion zeigt, sondern projiziert. Doch wer schaut schon gerne in diesen Spiegel? Viel angenehmer ist es doch, sich über den Kollegen zu beschweren, der ständig zu spät kommt, während man selbst die Ausrede „Verkehr war katastrophal“ bis zur Perfektion gemeistert hat. Oder über die Freundin, die nie zuhört, wenn man selbst die halbe Unterhaltung nur darauf wartet, endlich selbst sprechen zu dürfen.

Aber warum ist das so? Warum fallen uns gerade die Eigenschaften an anderen besonders auf, die wir – wenn wir ehrlich zu uns wären – selbst in uns tragen? Die Psychologie nennt das „Projektion“. Ein altbewährter Schutzmechanismus unseres Geistes, um unangenehme Wahrheiten über uns selbst zu verdrängen. Denn es tut einfach weh, sich einzugestehen, dass man selbst nicht so geduldig, großzügig oder diszipliniert ist, wie man es gerne hätte. Viel leichter ist es, die Unzulänglichkeiten bei anderen zu suchen – und dort zu finden.

Es beginnt oft ganz harmlos. Da ärgert man sich über den Chef, der nie genug lobt, während man selbst am Abendbrottisch die Erfolge des Partners oder der Kinder mit einem knappen Nicken quittiert. Oder man schimpft über die Nachbarin, die nur am Meckern ist, ohne zu merken, dass man gerade selbst eine halbe Stunde lang über sie hergezogen ist. Es ist wie ein unsichtbares Band, das uns alle verbindet. Denn wer hat sich nicht schon einmal dabei ertappt, den Fehler beim anderen zu suchen, um sich selbst besser zu fühlen?

Die Forschung bestätigt diese Beobachtung. Studien zeigen, dass Menschen dazu neigen, bei anderen am kritischsten zu sein, wenn sie selbst mit genau diesem Verhalten hadern. Ein Klassiker: Der Kollege, der immer wieder betont, wie sehr ihn Unzuverlässigkeit nervt, aber selbst ständig Termine verschwitzt. Oder der Freund, der über Arroganz lästert, dabei aber keinen Satz ohne „Ich“ beginnt. Was wäre, wenn der Frust über andere nur ein Ablenkungsmanöver ist, um sich nicht mit den eigenen Schwächen auseinandersetzen zu müssen?

Es gibt sogar wissenschaftliche Belege dafür, dass Menschen, die besonders stark verurteilen, oft besonders hohe Ansprüche an sich selbst haben – und daran scheitern. Das führt zu Frustration, die dann auf andere projiziert wird. Wie ein Blitzableiter für das eigene Unvermögen. Denn wenn die anderen so sind, wie man selbst nicht sein möchte, dann fühlt man sich wenigstens für einen kurzen Moment besser.

Doch was passiert, wenn man einmal innehält und den Spiegel in die Hand nimmt? Wenn man sich fragt, warum genau dieses Verhalten so stark in einem selbst Widerstand auslöst? Das kann unangenehm sein, ja. Aber es kann auch zu überraschenden Erkenntnissen führen. Vielleicht merkt man dann, dass die ständige Kritik am unorganisierten Kollegen nur die eigene Angst vor Chaos widerspiegelt. Oder dass die Gereiztheit über den lauten Nachbarn eigentlich der eigene Wunsch nach mehr Ausdruck ist.

Es geht nicht darum, plötzlich alles an sich zu akzeptieren oder sich in Selbstkritik zu verlieren. Es geht darum, ehrlich zu sich zu sein und sich zu fragen: Warum stört mich das so sehr? Was hat das mit mir zu tun? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten, aber sie sind der erste Schritt zu mehr Verständnis – für sich selbst und für andere.

Und wer weiß, vielleicht entdeckt man dann sogar eine gewisse Sympathie für den Kollegen, der ständig zu spät kommt. Weil man erkennt, dass es weniger um Unzuverlässigkeit geht und mehr um das Bedürfnis, aus einem strengen Zeitkorsett auszubrechen. Vielleicht lächelt man dann beim nächsten Mal, wenn die Freundin wieder nur von sich erzählt, weil man spürt, dass sie sich dadurch wichtig und gehört fühlen möchte – so wie man selbst auch.

Der Spiegel, den wir anderen vorhalten, ist oft der, in den wir selbst nicht schauen wollen. Doch genau dort liegt die Chance, mehr über uns selbst zu erfahren und anderen mit mehr Gelassenheit und Verständnis zu begegnen. Denn am Ende sind wir alle nur Menschen, die versuchen, mit ihren eigenen Schwächen zurechtzukommen – auch wenn sie sich manchmal in den Fehlern der anderen spiegeln.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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