Es ist ein seltsames Phänomen: Menschen, vor allem junge, schauen sich bewusst Videos an, die sie traurig machen. Sie hören Musik, die ihre Stimmung noch weiter runterzieht. Sie tauchen in düstere Gedankenwelten ein, obwohl sie eigentlich glücklich sein könnten. Warum tut man sich das an? Ist das eine Marotte der Generation Z, oder haben das junge Menschen schon immer gemacht?

Es beginnt oft harmlos. Ein Video taucht auf, ein kurzer Clip über eine traurige Geschichte. Vielleicht geht es um einen alten Mann, der seinen Hund verloren hat. Oder um ein Mädchen, das einen Brief von seiner verstorbenen Mutter liest. Man klickt, sieht es sich an – und plötzlich ist da dieses Ziehen in der Brust. Eine Mischung aus Melancholie, Mitleid und einer seltsamen, bittersüßen Zufriedenheit. Das Gefühl bleibt. Und beim nächsten Mal sucht man bewusst nach solchen Videos.

Warum? Weil negative Emotionen nicht nur schlecht sind. Sie fühlen sich intensiv an. Sie lassen uns spüren, dass wir lebendig sind. Und sie sind, paradoxerweise, oft angenehmer als das langweilige, monotone Grau des Alltags. Manchmal fühlt sich eine echte, tiefe Traurigkeit besser an als dieses „Mir-geht’s-ganz-okay“-Gefühl, das viele Menschen tagtäglich mit sich herumtragen.

Psychologen sprechen von „mood congruent consumption“ – dem Phänomen, dass Menschen Inhalte konsumieren, die zu ihrer aktuellen Stimmung passen. Wer traurig ist, hört traurige Musik. Wer melancholisch ist, liest traurige Geschichten. Und manchmal ist es umgekehrt: Man fühlt sich eigentlich neutral, aber sucht sich bewusst etwas, das einen runterzieht. Warum? Weil es eine Form der Selbstbestätigung ist. Ein „Ja, ich fühle mich so, und das ist in Ordnung“.

Dazu kommt ein weiterer Faktor: soziale Medien. TikTok, YouTube, Instagram – sie sind voll von emotionalen Kurzgeschichten, von Videos, die einen zum Weinen bringen sollen. Und je öfter man sich solche Inhalte ansieht, desto mehr werden sie einem vom Algorithmus vorgeschlagen. Ein Teufelskreis. Man taucht tiefer ein, klickt weiter, fühlt sich mehr und mehr in diese melancholische Blase gezogen.

Aber das ist nicht nur ein Problem der Generation Z. Auch frühere Generationen hatten ihre Formen von „kontrollierter Traurigkeit“. Liebeslieder über Trennungen gibt es seit Jahrhunderten. Bücher über tragische Helden, die alles verlieren, haben Millionen von Lesern berührt. Selbst alte Schwarz-Weiß-Filme aus den 50ern handelten oft von Schmerz, Verlust und Sehnsucht.

Der Unterschied? Früher war es schwieriger, sich in eine depressive Stimmung zu begeben. Man musste eine traurige CD einlegen, ein melancholisches Buch zur Hand nehmen oder einen Film bewusst auswählen. Heute reicht ein einziger Klick. Und plötzlich ist man in einer endlosen Spirale von traurigen Videos, nachdenklichen Zitaten und melancholischen Bildern gefangen.

Ist das gefährlich? Manchmal ja. Wer ständig in dieser Welt bleibt, wer sich immer weiter in dunkle Gedankenwelten hineinzieht, kann echte depressive Verstimmungen entwickeln. Doch für viele ist es nur eine Phase. Eine Form der Selbstreflexion. Ein Weg, sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen.

Vielleicht geht es also nicht darum, ob die Generation Z „sich in eine künstliche Depression reinsteckt“. Vielleicht geht es eher darum, dass sie einfach mehr Möglichkeiten hat, ihre Emotionen zu erforschen – auch die traurigen. Und vielleicht ist es auch ein leiser, unbewusster Protest gegen eine Welt, die von ihnen erwartet, immer stark, immer glücklich, immer perfekt zu sein.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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