Einmal im Jahr wird alles anders. Die Welt dreht sich weiter, aber wir tanzen aus der Reihe. Ganz gleich, wo man hinschaut – es gibt in fast jeder Kultur einen Monat, eine Zeitspanne, in der sich Menschen verhalten, als hätten sie die Regeln des Alltags kurzzeitig vergessen. Sie fasten, feiern, maskieren sich oder geben sich Riten hin, die auf den ersten Blick kaum in ihren sonstigen Lebensrhythmus passen. Was ist nur los mit ihnen? Es ist, als wären sie verzaubert.

Da wäre der Karneval. Menschen, die sonst seriöse Anzüge tragen und in der Bahn stumm auf ihr Handy starren, hüpfen nun in bunten Kostümen durch die Straßen und besingen völlig hemmungslos die absurdesten Dinge. Dann gibt es die Fastenzeit, in der Menschen plötzlich auf Schokolade, Alkohol oder gar ihr Smartphone verzichten, als wäre es das Natürlichste der Welt, monatelange Gewohnheiten einfach aufzugeben. Der Ramadan, in dem tagsüber nichts gegessen wird, während am Abend das gemeinsame Fastenbrechen fast schon ein Fest ist. Oder das Holi-Festival in Indien, wo Menschen, die gestern noch mit ernster Miene im Büro saßen, sich heute lachend mit Farbpulver bewerfen.

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen: Das chinesische Neujahrsfest, bei dem ganze Städte in Rot und Gold erstrahlen und Feuerwerkskörper mehr Lärm machen als der Verkehr einer Großstadt. Das jüdische Purim-Fest, das ein wenig an Karneval erinnert, weil dabei Kostüme getragen und Wein in ungewohnten Mengen getrunken wird. Das Thaipusam-Fest in Südostasien, wo Gläubige sich mit Speeren durch die Haut stechen lassen, als sei es ein spirituelles Fitnessprogramm. Und sogar in Kulturen, die sich eher als rational bezeichnen, gibt es diesen Moment des Ausnahmezustands – Black Friday etwa, wenn völlig zivilisierte Menschen sich um Fernseher prügeln, als ginge es um den letzten Funken Licht in einer apokalyptischen Welt.

Es wirkt paradox. Menschen halten sich an Regeln, funktionieren in ihrem Alltag, gehen gewissenhaft ihrer Arbeit nach, und dann – BÄM – plötzlich lassen sie los, als hätten sie sich jahrelang darauf vorbereitet, genau jetzt anders zu sein. Warum?

Wissenschaftler sehen darin ein tief verankertes menschliches Bedürfnis: den Rhythmus des Lebens. Wir brauchen Pausen vom Normalen, weil der Mensch nicht geschaffen ist für ewige Gleichförmigkeit. Die Psychologie spricht von „ritualisierten Ausnahmesituationen“, die eine Art mentalen Neustart ermöglichen. Es ist, als würden wir einmal im Jahr auf die Reset-Taste drücken, uns selbst aus dem gewohnten Modus herauskatapultieren, um dann mit frischer Energie weiterzumachen.

Aber es geht nicht nur um persönliche Erneuerung. Solche Zeiten schweißen uns als Gesellschaft zusammen. Sie lassen uns gemeinsam fühlen, lachen, leiden. Wer einmal Karneval gefeiert hat, kennt dieses fast magische Gefühl, mit wildfremden Menschen auf einer Wellenlänge zu sein. Wer fastet, erlebt die Kraft der Selbstdisziplin und der Gemeinschaft, wenn das erste Stück Brot nach einem langen Tag geteilt wird. Es sind kollektive Erlebnisse, die uns aus unserer Individualität herausheben und zeigen: Wir sind Teil von etwas Größerem.

Und es hat noch einen anderen Effekt: Es bricht die Eintönigkeit. Stell dir vor, es gäbe keine Feiertage, keine Feste, keine Zeiten des Andersseins. Alles wäre immer gleich, Tag für Tag, Monat für Monat. Der Mensch ist aber kein Roboter. Er sehnt sich nach Spannung, nach Kontrasten. Gerade weil der Alltag oft planbar und geordnet ist, braucht unser Geist das Ungewohnte. Deshalb lassen sich traditionsbewusste Menschen plötzlich auf wilde Tänze ein, ziehen sich Narrenmasken über oder laufen mit Lichterkränzen durch die Nacht.

Vielleicht ist es genau das, was uns menschlich macht: Die Fähigkeit, Regeln zu haben – und sie dann bewusst zu brechen. Nicht aus Chaos, sondern aus einem uralten, tiefen Verständnis heraus, dass das Leben nur in Bewegung lebendig bleibt.

Und so bleibt nur eine Frage: Wann ist dein nächster persönlicher Ausnahmezustand?

Von Kamuran Cakir

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