Da steht er nun. Mitten im Großraumbüro, die Brust ein wenig zu weit draußen, das Handy mit 173 unbeantworteten Nachrichten in der einen Hand, der Kaffeebecher mit „Ohne mich läuft hier gar nichts“ in der anderen. Und in seinem Kopf hämmert ein einziger Gedanke: Wenn ich hier nicht mehr bin, bricht der Laden zusammen. Es ist ein stiller Glaube, ein innerer Vertrag mit dem eigenen Selbstwertgefühl – und er ist überraschend weit verbreitet.

Man muss kein Chef sein, um sich unersetzlich zu fühlen. Es reicht, Elternteil zu sein, Projektleiterin, Vereinsvorsitzender, gute Freundin oder der Mensch, der in der WhatsApp-Gruppe immer den Überblick behält. Irgendwann schleicht sich dieses Gefühl ein, dass ohne einen selbst alles ins Chaos stürzt. Vielleicht ist es ein kleiner Rettungseinsatz, den man mal wieder alleine geschultert hat. Vielleicht ein Urlaub, nach dem alle sagen: Ohne dich war’s echt nicht dasselbe. Und zack – wächst da dieser Gedanke wie eine gut gegossene Zimmerpflanze: Ich bin wichtig. Wichtiger als die anderen. Vielleicht sogar unverzichtbar.

Aber wie realistisch ist das? Die Forschung sagt: weniger, als wir denken. Studien aus der Sozialpsychologie zeigen immer wieder, dass wir dazu neigen, unsere eigene Bedeutung zu überschätzen – ein Phänomen, das als „Self-Serving Bias“ bekannt ist. Frei übersetzt: Wir sehen uns gern als Helden der Geschichte, in der wir nur ein Teil von vielen sind. In Gruppenprojekten glauben viele, den Löwenanteil der Arbeit geleistet zu haben. In Beziehungen überschätzen wir unseren emotionalen Beitrag. Und im Beruf? Da halten wir uns für das Rückgrat – dabei ist das System oft viel flexibler, als unser Stolz verträgt.

Das bedeutet nicht, dass wir bedeutungslos sind. Im Gegenteil: Jeder hat seine Einzigartigkeit, seine Handschrift, seinen eigenen Stil. Aber unersetzlich? Das ist ein großes Wort. Und vielleicht auch ein gefährliches. Denn wer sich unersetzlich fühlt, lässt oft weniger Raum für andere. Gibt weniger ab. Teilt ungern Wissen. Hält das Rad am Laufen – aber so, dass keiner sonst versteht, wie es funktioniert. Und irgendwann steht man dann da, müde und überfordert – weil man selbst das Monster erschaffen hat, das ohne einen nicht mehr laufen kann.

Dabei ist das größte Geschenk, das man sich selbst und anderen machen kann, nicht die Unersetzlichkeit – sondern das Vertrauen darauf, dass auch ohne einen alles weitergeht. Vielleicht anders, aber nicht schlechter. Wie in einer Familie, in der die Mutter zum ersten Mal ein Wochenende allein verreist – und der Vater plötzlich weiß, wo die Brotdosen sind. Oder in der Firma, in der die Praktikantin übernimmt und überrascht alle mit ihrer Klarheit. Oder im Verein, in dem neue Ideen sprießen, weil der Vorsitzende endlich loslässt.

Natürlich schmerzt der Gedanke manchmal, dass man ersetzbar ist. Es kratzt am Ego. Aber es befreit auch. Denn wer weiß, dass er ersetzbar ist, muss sich nicht mehr überall beweisen. Muss nicht mehr überall präsent sein. Kann atmen, delegieren, wachsen. Und merkt irgendwann: Ich bin nicht weniger wert, nur weil andere es auch können.

Vielleicht ist das eigentliche Zeichen von Stärke nicht, unersetzlich zu sein – sondern zu wissen, wann man den Staffelstab weitergeben darf. Denn manchmal beginnt das wirklich Wichtige erst, wenn man loslässt. Und wer weiß? Vielleicht sagt dann irgendwann jemand ganz leise: Mit dir war’s anders. Aber auch jetzt ist es gut. Und das reicht. Mehr braucht kein Mensch.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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