Mitten im Unterricht, die Stimme der Lehrerin klingt wie von weit weg. Man starrt aus dem Fenster, beobachtet, wie ein Blatt langsam vom Baum fällt, denkt an den Geruch von Sommerregen oder daran, wie es wäre, einen Van zu kaufen und irgendwo in der Toskana ein Café aufzumachen. Für viele beginnt hier das schlechte Gewissen. Denn Tagträumen gilt noch immer als Synonym für Unaufmerksamkeit, Faulheit, vielleicht sogar Desinteresse. Doch was, wenn genau in diesem Schweifen der Gedanken eine unterschätzte Superkraft liegt?

In einer Welt, in der Produktivität fast schon zur Religion geworden ist, scheint es paradox: Der Kopf ist am effizientesten, wenn er mal nicht versucht, effizient zu sein. Und das ist keine poetische Spinnerei, sondern eine Erkenntnis aus der modernen Neurowissenschaft. Unser Gehirn ist ein erstaunlich cleveres Ding. Es hört nicht auf zu lernen, nur weil wir aufhören, krampfhaft nachzudenken. Im Gegenteil: Wenn wir es ihm erlauben, leise vor sich hin zu brummen wie ein Kühlschrank nachts, dann fängt es an, Puzzleteile zusammenzufügen, auf die wir im aktiven Zustand nie gekommen wären.

Jeder kennt diese Momente: Beim Spazierengehen fällt einem plötzlich die Lösung für ein Problem ein, das man stundenlang im Büro nicht knacken konnte. Oder man versteht auf einmal, warum man bei der letzten Familienfeier so gereizt war – nicht, weil man es sich mühsam hergeleitet hat, sondern weil der Kopf einfach arbeiten durfte, ohne dass man ihm dabei ständig ins Lenkrad greift.

Besonders spannend wird es, wenn man sich einfache, sich wiederholende Aufgaben anschaut – wie zum Beispiel das Sortieren von Besteck, das Durchsehen von langweiligen Excel-Listen oder das Beobachten eines Ladevorgangs am Computer. Genau dann neigt unser Verstand dazu, abzuschweifen. Und das ist gut so. Denn während wir äußerlich auf Autopilot laufen, beginnt im Inneren eine Art unsichtbarer Denkmarathon. Das Gehirn erkennt Muster, verknüpft Informationen, verarbeitet Erfahrungen – ganz ohne unser aktives Zutun. Man könnte sagen: Während wir in Gedanken auf Weltreise gehen, sortiert unser neuronales Team die Koffer unserer Erinnerungen und ordnet alles neu.

Und es geht noch weiter: Die Gehirnaktivität während des Tagträumens ähnelt überraschend stark der in bestimmten Phasen des Schlafs – jener magischen Zeit, in der wir Träume weben, Erlebtes verarbeiten und Lösungen finden, die uns tagsüber verschlossen bleiben. Tagträumen ist also gewissermaßen ein Wachtraumtraining für das Gehirn. Eine Mini-Auszeit, die gleichzeitig ein geheimer Lerneffekt sein kann – nur eben nicht messbar durch Fleißkärtchen oder Excel-Diagramme.

Natürlich funktioniert das nicht bei allem. Wer beim Autofahren, beim Operieren oder bei einer Matheprüfung in Gedanken versinkt, wird nicht plötzlich besser. Aber in vielen Bereichen des Alltags – gerade dort, wo Routine den Takt vorgibt – kann das geistige Wandern sogar neue Wege öffnen. Es ist ein bisschen wie bei einem Spaziergang ohne Ziel: Man entdeckt Orte, die man mit Navi nie gefunden hätte.

Vielleicht ist es also an der Zeit, das Tagträumen zu rehabilitieren. Nicht als Störfaktor, sondern als kreatives Hintergrundrauschen unseres Verstands. Wer sich erlaubt, hin und wieder „nichts“ zu denken, der gibt dem Gehirn genau das, was es braucht, um mehr zu erkennen, als es auf den ersten Blick zu sehen gibt. Und manchmal ist genau dieser zweite Blick der entscheidende.

Also das nächste Mal, wenn die Gedanken wieder aus dem Fenster hüpfen – nicht zurückrufen. Lass sie ruhig los. Wer weiß, mit welchen Erkenntnissen sie zurückkommen.

Von Selma Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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