Sie sitzt da, die alte Dame im blumigen Kleid, lächelt ins Leere und murmelt etwas von einer Tanznacht 1954. Ihre Finger streichen über den Stuhl, als sei es ein Kleid aus Tüll. Ihr Blick? Woanders. Nicht im Wohnzimmer, nicht bei der Tochter, die ihr gegenüber sitzt. Sondern bei jemandem, den sie längst verloren hat – oder nie vergessen konnte. Für sie ist dieser Moment real. Und das Heute? Verschwommen wie ein Traum nach dem Aufwachen.

Menschen mit Demenz verlieren nicht einfach nur ihr Gedächtnis. Sie verlieren Stück für Stück den Zugang zur Gegenwart. Während die Welt um sie herum sich verändert, verharren sie in Fragmenten ihrer Vergangenheit. In Momenten, die sich eingebrannt haben, tief in die Spuren des Gehirns – manchmal die einzigen, die geblieben sind. Und so kann es passieren, dass ein Mann jeden Tag darauf wartet, dass seine Mutter ihn vom Kindergarten abholt. Dass eine Frau fragt, wann ihr längst verstorbener Ehemann zum Abendessen kommt. Dass ein Lächeln einer Pflegerin für die Tochter gehalten wird, obwohl die Tochter selbst daneben steht.

Was in unserem Kopf passiert, wenn Demenz einzieht, ist zugleich tragisch und faszinierend. Die Wissenschaft spricht von neurodegenerativen Prozessen, von Ablagerungen wie Amyloid-Beta oder Tau-Proteinen, die sich im Gehirn ausbreiten wie Risse in einem Spiegel. Und mit jeder kleinen Veränderung bröckelt ein Stück der Gegenwart weg – bis nur noch alte Bilder übrig sind. Manche so lebendig, dass sie die Realität übertönen. Andere so verzerrt, dass sie Angst machen.

Und doch – so paradox es klingt – kann man auch inmitten dieses Verlorengehens etwas Kostbares entdecken. Denn während das „Jetzt“ sich auflöst, klammern sich viele Betroffene an das, was sie einst bewegt hat. Lieder, Düfte, vertraute Stimmen. Eine alte Melodie kann ein Fenster öffnen, ein Stück Apfelkuchen ein ganzes Leben wachrufen. Diese Erinnerungen sind wie kleine Anker – nicht nur für den Erkrankten, sondern auch für diejenigen, die ihn begleiten.

Es ist nicht einfach, jemanden zu lieben, der sich selbst nicht mehr erkennt. Der dich anschaut und fragt, ob du der neue Gärtner bist. Der glaubt, in seinem Elternhaus zu leben, obwohl es längst abgerissen wurde. Doch in diesen Momenten steckt auch etwas Menschliches. Denn vergessen ist nicht gleich leer. Oft lebt ein Gefühl weiter, das man nicht benennen kann. Ein vertrauter Blick, ein Händedruck, ein Kichern über etwas, das längst vergangen scheint – aber für einen kurzen Moment wieder lebt.

In einer Gesellschaft, die so sehr auf Leistung, Präsenz und Funktionalität fixiert ist, wirkt Demenz wie ein leiser Protest. Ein Zurückfallen in das, was wirklich zählte: Nähe, Zuneigung, Berührungen. Vielleicht ist es für die Betroffenen ein stilles Glück, in einer Welt zu sein, in der Sorgen aus heutiger Sicht keine Rolle mehr spielen. In der das Herz entscheidet, nicht der Kalender.

Aber es bleibt auch Schmerz. Besonders für die Angehörigen, die sich oft fühlen wie Statisten in einem Film, dessen Hauptrolle jemand spielt, der sie nicht mehr erkennt. Es braucht Geduld, Humor, eine gewisse Leichtigkeit – und manchmal auch die Fähigkeit, mitzuspielen. Nicht um zu lügen, sondern um das Herz zu bewahren. Wenn der Vater fragt, wann der Schulbus kommt, kann es helfen, zu sagen: „Gleich, Papa, gleich.“ Nicht um der Wahrheit willen – sondern um des Friedens.

Demenz nimmt. Aber sie zeigt uns auch, wie kostbar es ist, präsent zu sein. Wie wertvoll es ist, einen Moment bewusst zu leben. Denn am Ende bleiben es nicht die Kalenderdaten, die zählen, sondern die Gefühle, die wir jemandem schenken. Und wer weiß – vielleicht sind es genau diese Gefühle, die bleiben. Auch wenn alles andere geht.

Die Erinnerung ist wie ein altes Radio: manchmal rauscht es, manchmal kommt ein alter Hit. Und manchmal, wenn man Glück hat, tanzen zwei Menschen in einem Wohnzimmer – ganz ohne Musik, aber voller Gefühl.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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