Du sitzt mit einem Freund im Café, beide schaut ihr auf dieselbe Tomate in deinem Salat. Du sagst: „Wow, das Rot ist richtig kräftig!“ Und dein Freund nickt zustimmend. Doch was wäre, wenn ihr gar nicht dasselbe seht? Wenn das, was du als kräftiges Rot empfindest, für ihn wie ein sattes Orange wirkt – oder sogar wie das, was du selbst als Grün kennst? Ihr würdet es nie merken. Denn ihr habt gelernt, dieses Farberlebnis „Rot“ zu nennen, egal wie es euch erscheint. Es funktioniert. Ihr versteht euch. Und doch: Vielleicht habt ihr euch nie wirklich gesehen.
Die Frage klingt erst philosophisch, fast wie ein Gedankenspiel. Aber sie ist tief menschlich. Was ist, wenn das Innere unseres Sehens – das, was wir fühlen, wenn wir eine Farbe wahrnehmen – bei jedem anders ist? Und keiner kann es jemals wirklich wissen. Denn unsere Sinne sind nicht direkt vergleichbar. Wir sprechen darüber, aber fühlen tun wir es allein.
In den letzten Jahren ist die Wissenschaft dieser merkwürdigen Grenzfrage näher gekommen, ohne sie ganz auflösen zu können. Forscher versuchen, die Art und Weise zu verstehen, wie Menschen Farben erleben – nicht nur benennen, sondern wahrnehmen, fühlen, verorten. Dabei zeigt sich: Während Menschen mit einem typischen Farbsehen sich relativ ähnlich sind in dem, was sie erleben, weichen Farbenblinde auf ganz eigene Strukturen ab. Es ist nicht nur so, dass sie gewisse Farben nicht unterscheiden können – sie haben womöglich ein ganz anderes inneres Erleben, einen anderen Farbklang im Kopf. Und das ist mehr als ein Unterschied – das ist ein anderes Sehen derselben Welt.
Besonders spannend wird es, wenn man Farbbegriffe wegnimmt. Wenn Menschen nicht sagen sollen „Das ist Rot“, sondern einfach nur, welche Farben sich ähnlich anfühlen. Ein bisschen wie bei Musik: Welche Töne passen gut zusammen? Welche reiben sich? Welche klingen harmonisch? So ähnlich denken die Forscher heute über Farben. Als etwas Relationales, nicht Absolutes. Es geht nicht mehr darum, ob wir dasselbe Rot sehen – sondern ob wir den gleichen Abstand zwischen Rot und Rosa empfinden wie andere. Und wenn wir diese Abstände vergleichen, lässt sich viel über unser inneres Erleben sagen – ohne dass wir je erklären müssten, wie unser Rot aussieht.
Dabei ist die Erkenntnis nicht nur etwas für wissenschaftliche Journale. Sie betrifft jeden, der sich je gefragt hat, warum seine Lieblingsfarbe nie die Lieblingsfarbe eines anderen ist. Warum Menschen sich über Farben streiten, ob das Kleid nun blau oder gold ist. Oder warum das Babyzimmer unbedingt „freundlich gelb“ gestrichen werden muss, obwohl es für den anderen aussieht wie Spiegelei mit Augenschmerzen.
Unsere Farbwahrnehmung ist tief verbunden mit unserer Identität, unseren Erinnerungen, unserer Kultur. Ein knalliges Orange kann für den einen Lebensfreude bedeuten, für den anderen Krankenhausflur. Farben lösen Gefühle aus – aber die Gefühle sind nicht normiert. Vielleicht sind sie nicht einmal vergleichbar.
Das macht unsere Kommunikation nicht schlechter, sondern menschlicher. Denn obwohl wir nie sicher sein können, dass wir das Gleiche sehen, schaffen wir es, die Welt gemeinsam zu begreifen. Wir streiten über Modefarben, kaufen dieselben roten Äpfel, malen uns den Himmel blau. Und irgendwie reicht das aus. Es ist, als hätten wir eine geheime Vereinbarung getroffen, die uns erlaubt, unterschiedlich zu fühlen, aber trotzdem gemeinsam zu handeln.
Die Forschung ist noch lange nicht am Ende. Was heute über Gruppen funktioniert – also wie Menschen im Schnitt Farben vergleichen – könnte eines Tages auf Einzelne anwendbar sein. Vielleicht wissen wir dann mehr darüber, wie unterschiedlich wir wirklich ticken. Und vielleicht können wir uns dann noch besser verstehen – auch ohne dieselben Farben zu sehen.
Aber bis dahin bleibt ein Rest Geheimnis. Und das ist vielleicht sogar gut so. Denn die Welt ein bisschen anders zu sehen als andere – das macht sie nicht nur bunter, sondern auch menschlicher. Und vielleicht ist dein Rot ja genau deshalb das schönste Rot der Welt – einfach, weil es nur dir gehört.
