Es passiert schneller, als man denkt. Zwei Menschen sitzen zusammen, reden über einen dritten. Einer beschreibt seine Sicht der Dinge, mit einem gewissen Maß an Gefühl, Einordnung, vielleicht sogar einem Hauch von Sorge. Doch bevor dieser Gedanke zu Ende gedacht ist, kommt der verbale Keulenschlag: Die andere Person fährt dazwischen, als hinge das Universum von dieser Diskussion ab. Stimme scharf, Augen verengt, Körper nach vorn gebeugt, fast so, als würde sie sich gegen einen Angriff verteidigen – obwohl niemand angegriffen hat. „Ich weiß das ganz genau! So ist es, Punkt. Da gibt’s nichts zu diskutieren!“

Was ist da eigentlich passiert? Wie kommt es, dass man sich plötzlich in einem Duell wiederfindet, bei dem keiner gewinnen kann, aber jeder verliert – mindestens den Respekt des anderen? Und wie kann ein so banaler Ausgangspunkt – eine Einschätzung über jemand Drittes – sich plötzlich anfühlen wie ein Streit um Wahrheit, Würde und Weltordnung?

Das Problem liegt nicht selten im Anspruch auf hundertprozentige Wahrheit. Sobald jemand sagt: „Ich weiß das ganz genau“, wird die Tür zugeschlagen. Dahinter ist kein Raum mehr für Zwischentöne, für neue Perspektiven, für ein „hm, vielleicht“. Es gibt nur noch richtig oder falsch. Schwarz oder weiß. Und wehe dem, der eine andere Farbe ins Spiel bringen will.

Dabei wissen wir doch alle – tief im Innersten –, dass der Mensch ein Meister im Verkennen ist. Dass wir niemals alle Aspekte einer Situation erfassen können, dass unsere Einschätzungen stets durch unsere Brillen gehen: Erfahrungen, Erwartungen, Verletzungen, Hoffnungen. Wie kann man also ernsthaft glauben, alles über einen anderen zu wissen, der gerade gar nicht da ist, um sich selbst zu erklären?

In Diskussionen wie diesen trifft oft Analyse auf Emotion. Die eine Seite versucht, Dinge ganzheitlich zu betrachten, will vielleicht auch zwischen den Zeilen lesen, erkennt in einem Verhalten Unsicherheit oder Sehnsucht, statt nur Schwäche oder Schuld. Die andere Seite aber hält sich an Fakten fest wie ein Schiffbrüchiger an einer Planke. Für sie ist das, was sie gehört, gesehen oder verstanden hat, in Stein gemeißelt. Und jeder, der das in Frage stellt, bedroht nicht nur ihre Argumentation, sondern manchmal auch ein Stück ihrer selbst.

Das klingt dramatisch – und ist es auch. Denn viele dieser Konflikte entstehen nicht, weil man uneins ist über eine dritte Person, sondern weil die Diskussion heimlich eine ganz andere Ebene berührt: Vertrauen. Kontrolle. Selbstwert.

Was also tun, wenn man plötzlich im Kreuzfeuer steht, nur weil man eine andere Sichtweise wagt? Ruhig bleiben ist schwer, aber entscheidend. Denn wer mit Wut begegnet wird, kann mit Gelassenheit überraschen. Und manchmal reicht es auch, den Spiegel hinzuhalten, statt zu kontern: „Du bist dir sehr sicher. Was gibt dir diese Sicherheit?“ Oder: „Kann es sein, dass wir gerade über zwei verschiedene Dinge sprechen? Ich rede über den Eindruck, du über eine Erfahrung.“

Denn oft ist nicht der Inhalt das Problem, sondern die Art, wie diskutiert wird. Wer glaubt, nur Fakten zählten, verkennt, dass jedes Faktum eingebettet ist in ein Netz aus Interpretation, Kontext und Bedeutung. Auch ein Fakt bleibt nie lange nackt. Wir ziehen ihm Kleider unserer Annahmen über, und plötzlich wird aus „Er hat das gesagt“ ein „Er denkt so, und das zeigt, was für ein Typ er ist“.

Manchmal liegt also keiner von beiden völlig falsch – und auch keiner ganz richtig. Es geht nicht darum, Recht zu haben, sondern darum, gemeinsam klüger zu werden. Diskussionen müssen nicht zu Schlachten werden. Sie können auch Brücken sein.

Und ja, vielleicht bin ich manchmal kritisch. Vielleicht sehe ich Dinge differenzierter, als es meinem Gegenüber lieb ist. Aber das ist kein Fehler – das ist eine Stärke. Wer hinterfragt, will nicht zerstören, sondern verstehen. Und wer versteht, kann auch heilen.

Letztlich bleibt die Erkenntnis: Über Dritte wissen wir nie alles. Und über uns selbst oft auch nicht. Aber wir können lernen – miteinander, nicht gegeneinander. Und das beginnt mit dem Mut, auch mal nicht alles zu wissen.

„Wer glaubt, alles zu wissen, hört auf, wirklich zuzuhören.“ (K.S.C.)

Von Selma Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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