Ein Kind, das nicht schreit, nicht widerspricht, sich an Regeln hält, sich anpasst – für viele Erwachsene klingt das wie der Jackpot in der Erziehung. „So brav!“, sagen sie mit einem Lächeln. „So ruhig, so angenehm.“ Und in genau diesem Moment, so beiläufig er klingen mag, kann ein leises Missverständnis entstehen, das sich tief ins Selbstbild des Kindes gräbt. Denn wer für seine Ruhe, seine Anpassung und seine Unauffälligkeit gelobt wird, lernt schnell: „So wie ich bin, wenn ich nicht störe, bin ich gut.“

Lob ist ein zentrales Werkzeug der Erziehung. Richtig eingesetzt, kann es motivieren, stärken, beflügeln. Aber falsch eingesetzt – und das passiert häufiger, als viele meinen – kann es das Gegenteil bewirken. Denn Lob ist nie neutral. Es ist immer eine Botschaft, ein Signal: Das hier ist erwünscht. Das bitte nochmal. Die Psychologin Carol Dweck hat mit ihrer Forschung zur „Mindset-Theorie“ eindrucksvoll gezeigt, dass nicht das Lob an sich, sondern was gelobt wird, entscheidend ist. Wird ein Kind für seine Intelligenz gelobt („Du bist so schlau!“), neigt es eher dazu, Herausforderungen zu vermeiden, um dieses Bild aufrechtzuerhalten. Wird es hingegen für seine Anstrengung gelobt („Du hast dir echt Mühe gegeben!“), entwickelt es eher ein dynamisches Selbstbild und bleibt neugierig und mutig.

Wenn aber Kinder für ihr braves Verhalten, ihre Stille, ihre Pflegeleichtigkeit gelobt werden, lernen sie: Ich werde geschätzt, wenn ich mich zurücknehme. Und das ist ein gefährliches Fundament für das spätere Selbstbild. Denn wer nur dann Anerkennung erhält, wenn er sich nicht zu laut, nicht zu fordernd, nicht zu widerspenstig zeigt, wird früher oder später beginnen, die eigenen Impulse zu unterdrücken. Das innere Feuer wird leiser gestellt – nicht, weil es erloschen ist, sondern weil es nicht gebraucht zu werden scheint.

Eltern, die nur „lieb“ wollen, übersehen oft, dass Widerspruch, Frust, lautstarke Meinungsäußerung, Ja-und-Nein-sagen genauso zur gesunden Entwicklung gehören wie Anpassung und Rücksichtnahme. Ein Kind, das nie „nein“ sagt, sagt vielleicht auch irgendwann nicht „ja“ zu sich selbst. Es ist ein Trugschluss zu glauben, gute Kindererziehung bestehe darin, brave Kinder zu formen. Tatsächlich zeigt die Entwicklungspsychologie seit Jahrzehnten, dass Kinder, die sich selbst erfahren dürfen – mit all ihren Emotionen, Widersprüchen und Eigenarten – deutlich stabiler, resilienter und gesünder heranwachsen.

In Familien, in denen das Kind permanent für seine Angepasstheit gelobt wird, fehlt oft unbewusst ein zentraler Aspekt: das ehrliche Interesse am Innersten des Kindes. Fragen wie: Was brauchst du gerade? Was denkst du? Was fühlst du? werden selten gestellt, weil „es ja keine Probleme gibt“. Aber Ruhe ist nicht immer Gleichgewicht, Schweigen ist nicht immer Zufriedenheit. Und braves Verhalten ist nicht immer ein Zeichen emotionaler Sicherheit – manchmal ist es ein stiller Überlebensmechanismus.

Wer Kinder stärken will, sollte sie nicht formen wollen, sondern sie entdecken – jeden Tag neu. Nicht das brave Verhalten, sondern der ehrliche Ausdruck sollte wertgeschätzt werden. Das bedeutet: Auch wenn ein Kind wütend ist, traurig, ungeduldig oder voller Fragen – es hat damit genauso ein Recht auf liebevolle Zuwendung wie in seinen ruhigen Momenten. Die moderne Bindungsforschung, u.a. durch die Arbeiten von John Bowlby und Mary Ainsworth, betont immer wieder: Es kommt nicht auf Perfektion an, sondern auf Authentizität, Verlässlichkeit und echte Beziehung.

Das bedeutet in der Praxis: Lob nicht als Kontrolle, sondern als Spiegel einsetzen. Nicht: „Toll, dass du so leise warst“, sondern: „Ich finde es mutig, dass du mir gesagt hast, dass dir das nicht gefallen hat.“ Nicht: „Du bist so ein braves Kind“, sondern: „Ich sehe, dass du dir gerade Mühe gibst, das war bestimmt nicht leicht.“ Lob, das den Prozess ehrt – nicht nur das Ergebnis oder das Verhalten – wird zu einem inneren Kompass, der Kinder langfristig leitet.

Es braucht kein lautes Kind, um gesehen zu werden – aber es braucht Erwachsene, die hinhören, auch wenn es still ist. Erziehung bedeutet nicht, Kinder zu optimieren. Es bedeutet, ihnen Raum zu geben, in dem sie echt sein dürfen – mit allem, was dazugehört. Nur so wird aus einem braven Kind ein starkes, ein gesundes, ein selbstbewusstes. Und das ist viel mehr wert als jedes „Wie artig sie doch ist“.

Wie lobt man besser?

– Indem man nicht das Kind formt, sondern seine Entwicklung begleitet.
– Indem man nicht Ruhe feiert, sondern Ausdruck versteht.
– Indem man nicht Stillsein belohnt, sondern das Mitteilen würdigt.
– Indem man nicht „brav“ ruft, sondern fragt: Wie fühlst du dich dabei?
– Indem man nicht das Angepasste sieht, sondern das Echte stärkt.
– Indem man nicht lobt, um zu lenken – sondern, um zu erkennen.
– Indem man nicht erzieht, sondern Beziehung lebt.

So wird aus Lob kein Werkzeug der Kontrolle, sondern ein Spiegel der Verbindung.

Von Kamuran Cakir

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