Es gibt in jedem von uns einen Punkt, an dem alles, was wir glauben, zu wissen, ins Wanken gerät. Nicht aus Willensschwäche, nicht aus Charakterlosigkeit. Sondern, weil wir aus Fleisch, Gedanken und Vergangenheit gemacht sind – nicht aus Stahl.

Dieser Punkt ist kein Zufall. Er ist das Echo früherer Verletzungen, Erinnerungen, die sich wie kleine Risse durch unser Innerstes ziehen. Nicht sichtbar, nicht immer spürbar. Aber da. Immer da. Und wenn jemand ihn trifft, kann aus Unantastbarkeit plötzlich eine verhandelbare Angelegenheit werden.

Man könnte meinen, es ginge um Geld. Um einen Preis, der so hoch ist, dass er alles überstrahlt. Aber meistens ist es viel leiser. Viel subtiler. Es ist das Angebot, endlich gesehen zu werden. Oder geliebt. Oder verstanden. Es ist das Versprechen, nicht mehr kämpfen zu müssen, nicht mehr warten, nicht mehr verlieren.

Und so steht man da – mit der Überzeugung, das Richtige zu tun. Doch das Richtige ist plötzlich nicht mehr klar. Es verliert seine Schärfe, wird weich an den Rändern. Und man beginnt, sich zu fragen, ob ein kleines Nachgeben nicht vielleicht… gerechtfertigt wäre.

„Ich würde nie“, sagen wir oft. Und meinen es. Ehrlich. Doch das sagen wir, solange es abstrakt bleibt. Es ist leicht, Prinzipien hochzuhalten, wenn niemand an die Tür klopft. Wenn das, was man zu verlieren hätte, nur theoretisch existiert.

Aber dann wird es konkret. Der Punkt wird getroffen. Jemand sieht ihn. Und sticht genau dort hinein. Nicht mit Gewalt, sondern mit einer Mischung aus Verstehen und Versprechen. Mit einem Angebot, das keine Lüge ist, sondern einfach zu gut klingt, um es sofort zu verwerfen.

Und du merkst, dass dein Widerstand kein Schild ist, sondern eher ein dünner Vorhang. Und dahinter – nun ja. Dahinter steht der Mensch, der du bist, wenn niemand zuschaut. Der Mensch, der müde ist. Der hofft. Der sich erinnert, wie es war, als er sich machtlos fühlte.

Der wunde Punkt ist nicht das, was uns zerstört. Es ist das, was uns zeigt, wie echt wir sind. Wie tief unsere Geschichten reichen. Wie leicht wir ins Schwanken geraten können, wenn man uns nur richtig berührt.

Die Psychologie spricht von kognitiver Flexibilität, von situativem Entscheidungsverhalten, von moralischem Kontext. Aber das hilft nur so lange, wie niemand unsere tiefsten Knöpfe drückt. In Wahrheit sind wir nicht so berechenbar, wie wir gern glauben.

Und genau darin liegt unsere größte Verantwortung: Dass wir uns selbst nicht für unantastbar halten. Dass wir unsere Schwachstelle kennen, nicht um sie zu verstecken, sondern um sie zu schützen.

Denn vielleicht ist es nicht die Standhaftigkeit in der Theorie, die zählt. Sondern das Innehalten im entscheidenden Moment. Dieses kleine, leise „Warte… das bin ich nicht. Das will ich nicht.“ Und wenn das gelingt – nicht aus Trotz, sondern aus Klarheit – dann hat der Punkt uns nicht besiegt.

Vielleicht ist das wahre Prinzip nicht, niemals zu wanken. Sondern zu wissen, wann man sich selbst verteidigen muss. Nicht gegen andere. Sondern gegen den Teil in uns, der zu leicht zu kaufen ist, wenn jemand weiß, wo er suchen muss.

Und wenn wir das verstanden haben, dann können wir stark sein. Nicht unverwundbar. Aber aufrichtig. Und das reicht manchmal schon, um nicht zu kippen.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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