An einer roten Ampel stehen, jemanden trotz Eile vorlassen – und wenig später einen freien Parkplatz direkt vor der Tür finden. Ein schöner Zufall. Oder, wie viele gerne sagen würden: ein Wink des Karmas. Eine stille Belohnung des Universums für unser gutes Verhalten. Doch genau an dieser Stelle beginnt ein weitverbreitetes Missverständnis – und ein spannender psychologischer Mechanismus.
Der Begriff „Karma“ stammt ursprünglich aus den indischen Religionen, insbesondere dem Hinduismus und Buddhismus. Er bezeichnet dort das Prinzip von Ursache und Wirkung im moralischen Sinne: Jede Handlung hinterlässt eine Spur – nicht nur im Außen, sondern auch in der Seele des Handelnden. In westlichen Gesellschaften hat sich daraus jedoch eine vereinfachte Vorstellung entwickelt: Gutes zieht Gutes nach sich, Schlechtes das Gegenteil – möglichst sofort und sichtbar. Eine Art kosmisches Belohnungs- und Bestrafungssystem.
Psychologisch betrachtet liegt diesem Denken der sogenannte Glaube an eine gerechte Welt zugrunde, ein Konzept aus der Sozialpsychologie, das bereits in den 1960er Jahren von Melvin Lerner erforscht wurde. Dieser Glaube hilft Menschen, sich sicher und handlungsfähig zu fühlen. Wer glaubt, dass die Welt gerecht ist, nimmt an, dass gutes Verhalten belohnt wird – und schlechtes bestraft. Diese Überzeugung ist stabilisierend, sie vermittelt Kontrolle in einer chaotischen Welt.
Doch dieser Glaube hat eine Schattenseite: Er führt dazu, dass wir Gutes, das uns passiert, als verdienten Lohn interpretieren – und das Leid anderer Menschen als selbstverschuldet. Studien zeigen, dass wir dazu neigen, unser eigenes Scheitern auf äußere Umstände zu schieben („Pech gehabt“), während wir bei anderen eher auf Charakter oder Handeln schließen („Selbst schuld“). Psychologen sprechen hier vom Akteur-Beobachter-Divergenz und vom fundamentalen Attributionsfehler.
Diese Denkweise wirkt wie ein innerer Buchhalter: Wir schreiben uns selbst Gutschriften für unser Verhalten zu – und werten andere häufig unbewusst ab. Dabei ist dieser Mechanismus nicht Ausdruck von Bosheit, sondern von kognitiver Vereinfachung. Er hilft uns, Ordnung in eine komplexe und oft ungerechte Welt zu bringen. Doch er geht oft auf Kosten des Mitgefühls.
Was wäre aber, wenn wir Karma ganz anders verstehen würden? Nicht als äußeres System, das Quittungen verteilt, sondern als innere Haltung. Als Orientierung, wie wir mit der Welt und uns selbst umgehen – unabhängig davon, ob wir unmittelbar belohnt werden.
Diese Vorstellung deckt sich mit modernen psychologischen Konzepten wie der eudaimonischen Lebensführung: einem Ansatz, bei dem Glück nicht aus dem kurzfristigen Lustgewinn entsteht (hedonisches Glück), sondern aus Sinn, moralischer Integrität und der Übereinstimmung mit den eigenen Werten. In diesem Sinne wäre „gutes Karma“ nicht das, was uns passiert – sondern das, was wir bewusst wählen: Achtsamkeit, Mitgefühl, Verantwortung.
Der Psychologe Viktor Frankl formulierte es sinngemäß so – ein Gedanke, der ihm oft zugeschrieben wird, auch wenn er in dieser Form nicht belegt ist: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ Ob von ihm wörtlich gesagt oder nicht – dieser Gedanke bringt Frankls zentrale Idee auf den Punkt: Nicht das, was uns widerfährt, bestimmt unser Leben, sondern wie wir darauf antworten. Und genau hier beginnt vielleicht das tiefere Verständnis von Karma: nicht als Reaktion des Universums, sondern als bewusste Reaktion unseres Selbst.
Statt Gerechtigkeit zu erwarten, könnten wir sie bewusst schaffen. Statt in Belohnung und Strafe zu denken, könnten wir fragen: Was für ein Mensch will ich sein – auch wenn niemand hinschaut? Studien aus der Moralpsychologie zeigen, dass Menschen, die sich als prosozial erleben – also als jemand, der Gutes um seiner selbst willen tut –, ein höheres Wohlbefinden empfinden als Menschen, die rein extrinsisch motiviert sind.
Ein solches Verständnis von Karma macht frei. Es verlangt nicht, dass das Universum zurückzwinkert. Es lädt uns ein, selbst ein besseres Universum zu sein – im Kleinen, im Alltag, im Umgang miteinander.
Vielleicht gibt es also doch so etwas wie Karma – nur nicht da draußen. Sondern in uns. In unserer Haltung. In unserer Fähigkeit zur Reflexion, zur Empathie, zum bewussten Handeln. Und vielleicht beginnt gutes Karma genau in dem Moment, in dem wir aufhören, es zu zählen.
Denn während das Universum keine Quittungen schreibt, führt unser Gewissen sehr wohl Buch. Und das kann, wenn wir ehrlich hinschauen, eine viel präzisere Abrechnung liefern als jede äußere Instanz.
