Ein Mädchen sitzt in der letzten Reihe der Klasse. Ihr Blick schweift aus dem Fenster, obwohl sie in die Matheaufgabe vor ihr starren sollte. Sie ist ruhig, stört niemanden, schreibt mit – manchmal. Aber meistens bleibt sie in Gedanken hängen, verliert den Faden, vergisst, was sie eigentlich tun wollte. Sie lächelt höflich, wenn man sie anspricht, aber irgendetwas scheint sie immer woanders zu sein. Auf den ersten Blick wirkt sie vielleicht schüchtern oder verträumt. Was kaum jemand ahnt: In ihrem Kopf tobt ein ganz anderes Chaos. Nicht laut. Nicht sichtbar. Aber ständig präsent. Und dieses stille Durcheinander kann mit der Zeit zu etwas führen, das so viel schwerer wiegt als ein vergessener Hausaufgabenzettel – zu echter Angst.

Wenn man über ADHS spricht, denken viele zuerst an das zappelige Kind mit dem Drang, überall dazwischenzuplatzen. An das Kind, das nicht stillsitzen kann, laut ist, ständig in Bewegung – meist ein Junge. Und ja, diesen Typ ADHS gibt es. Doch daneben gibt es noch eine ruhigere, fast unsichtbare Variante: die unaufmerksame Form. Sie betrifft häufiger Mädchen. Und sie bleibt oft lange unentdeckt. Denn diese Kinder fallen nicht durch Störungen auf. Sie verlieren sich in ihren Gedanken, vergessen Aufgaben, lassen sich leicht ablenken – aber sie bringen keinen Ärger. Und so werden sie übersehen.

Was das Problem daran ist? Dass sich unter dieser stillen Unaufmerksamkeit mit der Zeit etwas Lautes, Mächtiges entwickeln kann: Angst. Nicht die Angst vor Spinnen oder Dunkelheit, sondern ein nagendes Gefühl im Bauch, das kommt, wenn man immer wieder das Gefühl hat, nicht mitzukommen. Wenn man sich selbst ständig als zu langsam, zu zerstreut, zu „anders“ erlebt. Diese Angst schleicht sich ein, unbemerkt – und wird stärker.

Und das ist kein Zufall. Neue wissenschaftliche Beobachtungen zeigen, dass es bei Mädchen mit dieser Form von ADHS tatsächlich häufiger zu Angststörungen kommt. Es ist wie ein Pingpong-Spiel zwischen Gedankenflucht und Sorgen: Je unaufmerksamer das Mädchen sich fühlt, desto mehr Sorgen entstehen. Und je mehr Sorgen sie plagen, desto schwerer fällt es ihr, sich zu konzentrieren. Ein Kreislauf, der sich gegenseitig füttert. Manchmal über Jahre hinweg.

Bei Jungen sieht das anders aus. Da fällt häufiger die hyperaktive Variante auf: Sie zappeln, sie unterbrechen, sie platzen in Gespräche, rutschen auf dem Stuhl herum. Das ist anstrengend – aber sichtbar. Und Sichtbarkeit bedeutet oft auch: Hilfe kommt früher. Diagnosen werden gestellt, Therapien eingeleitet, der Druck nimmt ab. Bei den Mädchen dagegen bleibt das innere Chaos häufig eine leise Randnotiz. Bis es sich irgendwann laut bemerkbar macht – in Form von Panik, Rückzug, Schlafproblemen oder ständiger innerer Unruhe.

Das Tragische daran ist: Viele dieser Mädchen glauben lange Zeit, mit ihnen stimme etwas nicht. Sie denken, sie seien faul, dumm oder einfach nicht belastbar genug. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Sie kämpfen jeden Tag einen unsichtbaren Kampf – mit einer beachtlichen Stärke, die aber niemand sieht. Und genau deshalb wird so vielen von ihnen nicht rechtzeitig geholfen.

Dabei wäre es gar nicht so schwer. Wer genau hinsieht, merkt, dass auch stilles Verhalten laut schreien kann. Dass Tagträumen keine Faulheit ist. Dass Schüchternheit manchmal nur der Deckmantel für Unsicherheit ist. Und dass ein ruhiges Kind, das oft abwesend wirkt, vielleicht nicht einfach „anders tickt“, sondern Unterstützung braucht – bevor aus Konzentrationsproblemen echte Angststörungen entstehen.

Wenn man mit diesen Erkenntnissen nun Kinder beobachtet, fällt plötzlich auf, wie viele davon betroffen sein könnten. Vielleicht die eigene Tochter, die in der Schule untergeht. Vielleicht das Nachbarsmädchen, das nie stört, aber nie lacht. Vielleicht man selbst, damals – oder sogar heute noch. Denn auch viele Erwachsene tragen diese Muster weiter in sich, oft ohne zu wissen, warum sie sich so oft überfordert, übersehen oder innerlich unruhig fühlen.

Was wir brauchen, ist ein neuer Blick. Einer, der nicht nur auf das laute Kind achtet, das mit der Tür ins Klassenzimmer fällt. Sondern auch auf das stille, das scheinbar brav und angepasst ist – aber innerlich kämpft. Und ein Verständnis dafür, dass ADHS nicht immer Lärm macht. Manchmal flüstert es nur. Und manchmal flüstert es so lange, bis daraus ein Schrei wird.

Vielleicht wäre es an der Zeit, leiser zu hören. Damit wir nicht länger warten, bis es zu laut wird.

Wenn man erkannt hat, dass ein Kind möglicherweise ADHS hat – besonders die oft übersehene unaufmerksame Form – kann sich sehr viel verändern. Zum Guten. Denn Verstehen ist der erste Schritt zur Entlastung – für das Kind und für alle drumherum. Was vorher wie ein ständiges „Versagen“ wirkte, bekommt plötzlich einen Namen. Und mit einem Namen kommt die Möglichkeit, gezielt zu helfen.

Was sich ändern kann:
Weniger Selbstzweifel: Kinder, die ständig hören, dass sie sich „mehr anstrengen“ sollen, fühlen sich oft als Versager. Eine Diagnose kann erklären: Es liegt nicht an dir. Dein Gehirn funktioniert einfach anders.

Mehr Verständnis im Umfeld: Lehrer, Eltern und Freunde können lernen, Verhaltensweisen besser einzuordnen. Das reduziert Konflikte und Schuldzuweisungen.

Gezielte Unterstützung: Durch Förderung, Therapie oder auch einfach strukturelle Anpassungen im Alltag – das Kind muss nicht mehr allein durchhalten, sondern bekommt Werkzeuge.

Sinnvolle nächste Schritte:
1. Kinder- und Jugendpsychiatrische Abklärung:
Ein Termin bei einem Facharzt oder einer Fachärztin (Kinder- und Jugendpsychiatrie oder spezialisierte Psychotherapeuten) ist wichtig für eine fundierte Diagnose. Hier werden Gespräche geführt, Fragebögen ausgewertet und das Verhalten des Kindes in verschiedenen Kontexten betrachtet.

2. Gespräche mit der Schule:
Eine gute Zusammenarbeit mit Lehrkräften ist entscheidend. Die Schule kann Förderpläne entwickeln, Nachteilsausgleiche anbieten (z. B. mehr Zeit für Aufgaben oder Prüfungen) und helfen, einen positiven Rahmen zu schaffen.

3. Pädagogische und psychotherapeutische Unterstützung:
Gerade bei Mädchen mit stiller ADHS ist Verhaltenstherapie hilfreich – nicht nur zur Verbesserung der Konzentration, sondern auch zum Aufbau von Selbstvertrauen, dem Umgang mit Angst und sozialer Unsicherheit.

4. Strukturen und Routinen im Alltag:
Kinder mit ADHS profitieren enorm von klaren Tagesabläufen, sichtbaren To-do-Listen, kleinen Etappenzielen und ritualisierten Übergängen (z. B. „Hausaufgaben erst nach 10 Minuten Auszeit mit Musik“). Auch Apps oder visuelle Planer können helfen.

5. Entlastung der Eltern:
Ein Elterntraining (z. B. durch Erziehungsberatungsstellen) hilft, besser mit dem Verhalten umzugehen und den Stress zu reduzieren. Denn ADHS betrifft die ganze Familie – nicht nur das Kind.

6. Prüfung auf begleitende Themen:
ADHS ist oft nicht allein: Lernschwierigkeiten, Ängste, Depressionen oder Schlafprobleme treten häufig zusätzlich auf. Eine umfassende Sichtweise ist deshalb wichtig.


Wichtig ist: Eine Diagnose ist keine Endstation, sondern der Anfang. Der Anfang von mehr Verständnis, mehr Leichtigkeit und besseren Chancen. Kinder mit ADHS sind oft sehr kreativ, sensibel, mitfühlend und voller Ideen. Wenn sie lernen, mit ihren Besonderheiten umzugehen – und die Welt lernt, sie zu unterstützen – dann kann genau daraus später einmal ihre große Stärke werden.

Von Selma Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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