Manchmal geschieht es ganz von selbst: ein Gedanke, der gestern noch schwer auf den Schultern lag, löst sich über Nacht wie Nebel im ersten Sonnenstrahl. Wir merken es kaum, wir wachen auf, trinken unseren Kaffee, starren in die vorbeiziehende Straßenbahn – und irgendwo im Inneren ist ein Platz frei geworden. Glücklich ist, wer vergisst. Nicht, weil er das Leben verdrängt, sondern weil er es sich zutraut, es nicht immer festhalten zu müssen.

Neuere Studien zeigen tatsächlich, dass Vergessen kein Defekt ist, sondern eine aktive Leistung des Gehirns. Nervenzellen sortieren aus, was nicht mehr dienlich ist, schieben Überflüssiges beiseite, wie jemand, der einen Schreibtisch aufräumt, damit wieder Ideen darauf Platz finden. Forschende sprechen von einem „adaptiven Vergessen“ – unser Kopf schützt uns so vor einem Zuviel. Denn würden wir alles speichern, jede Kränkung, jede verlegene Bemerkung von vor acht Jahren, wir kämen kaum noch ins Heute.

Vielleicht kennst du es, dieses plötzliche Erinnern an eine peinliche Szene: der Moment in der Schule, als du den Namen des Lehrers verwechselt hast, und das Gelächter noch Wochen in den Ohren lag. Und dann, Jahre später, erzählst du genau diese Szene lachend beim Abendessen, weil sie längst ihren Stachel verloren hat. Der Schmerz wurde ausgeblendet, übrig bleibt nur eine schräge kleine Geschichte. Dieses Vergessen ist kein Verrat am eigenen Leben – es ist eine Gnade, die wir oft gar nicht bemerken.

Und dann gibt es die schweren Geschichten, die wir in uns tragen. Menschen, die uns verlassen haben, Fehler, die wir gemacht haben. Die Forschung weiß, dass das Gehirn Erinnerungen abschwächt, wenn wir sie seltener abrufen. Manche Gefühle verlieren mit der Zeit ihre Farben, nicht, weil wir gefühllos werden, sondern weil wir leben müssen. Ein Wissenschaftler formulierte es jüngst so: Vergessen ist wie die innere Fähigkeit, mit leichtem Gepäck weiterzugehen.

In einer Welt, in der alles gespeichert wird – Fotos, Chats, Posts, sogar das, was wir nie abschicken – wirkt Vergessen fast revolutionär. Wir könnten uns entscheiden, nicht jeden Stich in der Seele festzuhalten. Es wäre wie das bewusste Löschen alter Dateien, die nie wieder geöffnet werden müssen. Die Neurowissenschaften sehen das so: Vergessen ist kein Mangel, sondern eine Funktion, ohne die wir uns im eigenen Kopf verlieren würden.

Man spürt das manchmal an Tagen, an denen plötzlich Frieden einkehrt. Die Erinnerung an den Streit mit dem besten Freund verblasst, übrig bleibt die Dankbarkeit, dass er noch da ist. Die Scham über ein missglücktes Bewerbungsgespräch weicht einem vagen Wissen: Ich habe daraus gelernt. So, wie wir alte Kleidung irgendwann verschenken, verschenken wir mit dem Vergessen Ballast.

Vielleicht liegt in diesem Prozess eine stille Weisheit. Man muss nicht alles wissen, nicht alles behalten. Manche Dinge dürfen vergehen, damit das, was bleibt, umso heller leuchtet. Und wenn du dich fragst, ob du noch glücklich sein darfst, obwohl du etwas nicht mehr so scharf erinnerst wie früher, dann darfst du lächeln: Dein Kopf hat nur Platz gemacht. Für Neues. Für dich. Für das, was jetzt wichtig ist.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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