Gerecht zu sein ist gar nicht einfach – es klingt so schlicht, fast wie ein Spruch an einer Schulwand. Doch sobald man versucht, es zu leben, merkt man, wie schwer es wiegt. Ein Mensch hört die meisten Lügen oft gerade von denen, denen er am meisten vertraut. Und trotzdem sprechen wir von Gerechtigkeit, als wäre sie ein festes Ziel, ein Stein, der für alle dieselbe Form hat. Aber was heißt es überhaupt, gerecht zu sein? Ist das wirklich möglich? Nach wessen Maßstab sollte man sich richten?
Ein Mensch trägt seine eigenen Fehler, seine eigene Unwissenheit immer mit sich herum wie eine unsichtbare Tasche voller kleiner Steine. Jedes Urteil, das er fällt, ist gefärbt von dem, was er weiß und von allem, was er nicht weiß. Und dann soll er entscheiden, was gerecht ist? Kann so etwas überhaupt Gerechtigkeit genannt werden? Vielleicht bedeutet gerecht zu sein überhaupt nicht, beide Seiten gleich glücklich zu machen, sondern beiden Seiten gleich ehrlich zu begegnen. Doch wie soll das einem gelingen, wenn die eine Seite blind stolpert, die andere voller Stolz an ihren Irrtümern festhält und alle mitten in ihrem eigenen Nebel stehen?
Manchmal denken wir, gerecht sein bedeutet, dass man alle zufrieden stellen muss. Aber kann man das wirklich? Stell dir doch nur einmal einen Streit zweier Geschwister vor, beide überzeugt, dass sie Recht haben. Du stehst zwischen ihnen, du hörst zu, du spürst ihre Emotionen. Wer von beiden soll nun recht bekommen? Die Schwester, die ihre Worte wie Pfeile schießt, oder der Bruder, der schweigt, aber innerlich kocht? Du wirst merken: Gerechtigkeit ist kein einfacher Schlüssel, der jedes Schloss öffnet. Sie ist eher wie ein Seiltanz, bei dem du ständig stolperst und fällst und trotzdem weitermachen musst.
Wissenschaftler sprechen davon, dass Menschen immer nur eine „begrenzte Rationalität“ besitzen. Wir entscheiden nach unserem Wissen, unseren Erfahrungen, unseren Gefühlen. Das Gehirn selbst ist nicht neutral – es ist ein Meister im Filtern, im Vergessen, im Umbiegen von Erinnerungen. Neuere Studien zeigen gar, dass selbst Richter, die jahrelang geschult sind, nicht frei von Tagesform und Stimmung entscheiden. Und wenn nun selbst sie schwanken, wie sollen wir dann in unseren kleinen alltäglichen Kämpfen gerecht sein?
Vielleicht liegt die Antwort darin, dass Gerechtigkeit nicht bedeutet, alles perfekt auszutarieren, sondern bewusst zu sein, dass man nie ganz fertig ist mit diesem Versuch. Gerechtigkeit atmet, sie wächst mit, sie irrt sich, sie bittet um Verzeihung. Sie ist kein Urteil mit Stempel, sondern eine Haltung, die du jeden Tag neu suchst. Und es ist geradezu mutig, sich selbst zu prüfen, bevor man urteilt.
Denn eines ist gewiss: am Ende wirst du nie alle zufriedenstellen. Aber vielleicht ist das ja auch nicht der Sinn. Vielleicht ist Gerechtigkeit eher so etwas wie ein stilles Gespräch mit dir selbst, in dem du dir eingestehst, dass du nicht alles weißt, aber trotzdem bereit bist, beiden Seiten so fair wie möglich zu begegnen. Und genau das, dieses ständige Ringen, macht einen jeden von uns, der es wagt, so menschlich, so zerbrechlich. Schließlich bedeutet gerecht zu sein nicht das ruhige Sitzen auf einem Thron der Wahrheit. Es ist ein Schritt nach dem anderen auf einem schmalen Grat, auf dem wir alle tanzen – manchmal elegant, manchmal unbeholfen, aber immer mit der Hoffnung, dass wir nicht nur uns selbst, sondern auch den anderen ein kleines Stück näher an das bringen, was wir für gerecht halten.
