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Es beginnt oft unerwartet, zum Beispiel mit einem schlichten Platz im Hörsaal, einem zufälligen Sitznachbarn oder der ersten Lerngruppe. Und dabei scheint alles noch belanglos. Ein Name, ein Gesicht, ein gemeinsamer Blick in die Richtung des Dozenten. Und doch passiert im Hintergrund etwas viel Größeres, als wir ahnen: Unsere Persönlichkeit beginnt langsam und ganz unverhofft zu flüstern. Und manchmal ändert sie dabei sogar ihren Tonfall.

Denn so unabhängig wir uns oft fühlen – wir sind nunmal nicht aus Stein. Ganz im Gegenteil- wir sind formbar, durchlässig und empfänglich. Und während wir denken, wir würden unsere Wege allein bestimmen, schleichen sich andere ganz unbemerkt in unsere Gedanken. Und dies nicht mit Absicht, sondern durch ihre Art, wie sie sind. Ihr Fleiß, ihre Unruhe, ihre Neugier, ihr Ehrgeiz – sie färben ab. Fast wie der Regen auf trockenem Sand: erst sind es sichtbare einzelne Tropfen, dann entsteht schon bald ein neues Muster.

Was sich zunächst wie ein poetischer Gedanke anhört, ist inzwischen auch wissenschaftlich nachvollziehbar. Forscher haben genauer hingeschaut, was geschieht, wenn Menschen über längere Zeiträume miteinander zu tun haben – ob sie wollen oder nicht. Und sie fanden heraus: Unsere sozialen Kontakte hinterlassen nicht nur Spuren im Kalender, sondern auch in unserem Charakter.

Es sind diese feinen Verschiebungen im Inneren, die sich kaum jemand erklären kann, die aber viele nur allzu  gut kennen: Man wird plötzlich strukturierter, wenn man viel mit jemandem zu tun hat, der alles plant. Man stellt fest, dass man motivierter arbeitet, wenn man sich mit jemandem umgibt, der immer noch ein kleines bisschen mehr gibt. Oder man stellt fest, dass man selbst anfängt, sich mehr Fragen zu stellen – weil ein anderer nie aufhört, Dinge zu hinterfragen. Nicht, weil man es sich vornimmt. Sondern einfach weil Nähe Spuren hinterlässt.

Und so gibt es Eigenschaften, die besonders „ansteckend“ sind. Gewissenhaftigkeit zum Beispiel. Wenn jemand im Umfeld organisiert ist, pünktlich, fleißig – dann fällt es plötzlich leichter, selbst Ordnung zu halten. Auch Offenheit kann sich übertragen: Die Bereitschaft, Neues auszuprobieren, sich auf unbekannte Perspektiven einzulassen, wächst im Kontakt mit Menschen, die genau das leben. Wettbewerbsgeist ist ebenfalls ein solcher Kandidat. Wer sich mit ambitionierten Leuten umgibt, beginnt oft selbst, ein wenig mehr über sich hinauszuwachsen.

Andere Eigenschaften, wie etwa Extraversion oder emotionale Ausgeglichenheit, bleiben dagegen weitgehend immun. Vielleicht, weil sie tiefer verankert sind oder stärker mit der eigenen Geschichte verwoben sind. Aber was die Forschung zeigt: Unser Charakter ist kein festes Gebilde, sondern ein dynamisches System. Und das soziale Umfeld wirkt dabei wie ein feiner, aber stetiger Wind, der mit der Zeit die Richtung ändert, in die wir blicken.

Spannend ist dabei, dass solche Veränderungen nicht flüchtig sind. Sie verschwinden nicht einfach wieder, wenn das Semester vorbei ist oder die Kollegin das Büro wechselt. Sie nisten sich ein. Gewisse Charakterzüge, die durch andere aktiviert wurden, bleiben oft noch Jahre später spürbar. Was wie eine zufällige Begegnung begann, kann still und leise zur Weichenstellung für die eigene Entwicklung werden.

Im Alltag bedeutet das: Die Menschen, mit denen wir unsere Zeit verbringen, sind mehr als nur Begleiter. Sie sind Gestalter – und manchmal sogar unsere heimlichen Trainer. Wer ständig mit Menschen zusammen ist, die Verantwortung übernehmen, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst verantwortungsbewusster. Wer von Menschen umgeben ist, die sich Ziele setzen, wird beginnen, seine eigenen zu schärfen.

Darum lohnt es sich, genauer hinzusehen, wen man nah an sich heranlässt – nicht aus Angst, sondern aus Bewusstsein. Denn jede Begegnung ist auch eine Einladung zur Veränderung. Und das Schönste daran: Wir haben mehr Einfluss auf unsere eigene Entwicklung, als wir denken. Nicht nur durch Bücher, Kurse oder Selbstreflexion. Sondern ganz einfach durch die Wahl unserer Umgebung. Freundeskreise, Teams, Studiengruppen – sie sind keine Kulisse. Sie sind Teil des Drehbuchs.

Die Frage, wer wir sind, ist also untrennbar verbunden mit der Frage, mit wem wir uns umgeben. Und wer bereit ist, sein Umfeld bewusst zu wählen, hat vielleicht den ersten Schritt getan – nicht nur, um sich selbst zu finden, sondern sich selbst zu gestalten. Mit einem Augenzwinkern, mit etwas Mut und mit der Offenheit, sich immer wieder neu formen zu lassen. Nicht, weil man sich verliert. Sondern weil man wächst.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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