Manche Menschen führen ein Leben, das von außen betrachtet vollkommen erfüllt wirkt. Sie haben stabile Beziehungen, eine Arbeit, die ihnen Sinn gibt, und viele Momente des Glücks. Und dennoch beschleicht sie manchmal dieses schwer zu benennende Gefühl, dass irgendetwas fehlt – ein unsichtbares Kribbeln, als würde eine Saite in ihrem Inneren ungestimmt bleiben. Es ist kein lautes Problem, kein dramatisches Loch, eher ein kaum hörbares Flüstern: War das schon alles?

In den letzten Jahren hat die Wissenschaft damit begonnen, genau dieses Gefühl ernst zu nehmen. Denn lange Zeit haben wir das „gute Leben“ fast ausschließlich in zwei Kategorien eingeteilt. Da gibt es das Leben, das von Freude und positiven Emotionen getragen wird – wer viel lacht, sich wohlfühlt, ist auf dem richtigen Weg. Und da gibt es das Leben, das sich auf Sinn konzentriert – wer klare Ziele verfolgt, Verantwortung übernimmt und anderen hilft, der lebt erfüllt. Doch jetzt rückt eine dritte Facette ins Licht, eine, die weniger offensichtlich ist und doch vieles erklärt: die psychologische Fülle. Sie beschreibt ein Leben, das reich an Erfahrungen ist, die unsere Sicht auf die Welt verändern, auch wenn sie uns manchmal unbequem sind.

Diese Erkenntnis klingt zunächst abstrakt, doch sie berührt etwas, das wir alle kennen. Denken wir an die Reisen, die uns nicht nur neue Orte gezeigt haben, sondern auch neue Sichtweisen. Oder an die Bücher, die wir fast widerwillig begonnen haben, weil sie „anstrengend“ wirkten – und die uns dann heimlich die Augen für etwas geöffnet haben, das wir vorher nie bedacht hatten. Manchmal liegt diese Fülle in großen Ereignissen, wie einem Studienjahr im Ausland, das uns mit fremden Sprachen und Gewohnheiten konfrontiert. Manchmal ist sie ganz leise, wie ein Lied, das uns mitten im Alltag einen Kloß im Hals beschert, weil es etwas in uns anrührt, das wir gar nicht benennen können.

Die Forschung dazu zeigt, dass manche Menschen genau nach diesen Erlebnissen suchen. Nicht, weil sie den Schmerz lieben, sondern weil sie spüren, dass Wachstum selten in Watte gepackt ist. Ein Studium etwa: kein ständiges Hochgefühl, auch nicht immer von tiefer Bedeutung getragen, aber nach ein paar Semestern merken wir, dass wir die Welt mit anderen Augen sehen. Oder ein herausforderndes Projekt im Job, das uns schlaflose Nächte bereitet, aber danach einen neuen Blickwinkel schenkt. Sogar schwere Erlebnisse, die wir niemandem wünschen würden, können diese seltsame Art von Reichtum hinterlassen – das Gefühl, tiefer zu sehen, nuancierter zu denken, ein Stück weit verwandelt zu sein.

Interessant ist, dass wir selten alle drei Wege – Glück, Sinn und diese besondere Fülle – gleichzeitig in voller Intensität erleben. Oft gibt es Kompromisse. Ein Leben voller Abenteuer, Perspektivwechsel und intellektueller Neugier ist nicht immer gemütlich. Es ist wie ein wild gemischter Teller voller neuer Geschmacksrichtungen: aufregend, manchmal scharf, manchmal bitter, aber immer überraschend. Wer diesen Weg geht, entscheidet sich manchmal bewusst gegen Bequemlichkeit und für die Fragezeichen des Lebens.

Die Vorstellung, dass das gute Leben nicht nur aus Lachen und klaren Zielen besteht, sondern auch aus diesem Drang nach Vielfalt, kann tröstlich sein. Sie erinnert uns daran, dass Unzufriedenheit nicht automatisch bedeutet, dass wir etwas falsch machen. Vielleicht sind es genau diese Momente der inneren Unruhe, die uns signalisieren, dass wir mehr von der Welt kosten wollen. Dass wir nicht nur satt und sicher sein wollen, sondern auch berührt, überrascht, herausgefordert.

Am Ende geht es nicht darum, ob Glück oder Sinn wichtiger ist, sondern darum, ob wir den Mut haben, unserem Leben Tiefe zu geben. Durch kleine Abenteuer, ein Gespräch, das uns zum Nachdenken bringt, oder eine Erfahrung, die uns aus der Bahn wirft und uns mit neuen Augen sehen lässt. So entsteht ein Leben, das nicht nur gut, sondern reich ist – reich an Eindrücken, Erkenntnissen und diesen feinen Momenten, in denen wir spüren, dass wir lebendig sind.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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