Manchmal liegt das Auffällige direkt vor uns und doch sehen wir das Entscheidende nicht.
Ein Teenager, der ständig aneckt, im Unterricht stört, Türen knallt und jede Regel in Frage stellt, zieht sofort Blicke auf sich. „Der braucht mehr Disziplin“, denkt man vielleicht. Aber was, wenn dieser laute Widerstand nur die Spitze des Eisbergs ist und darunter eine Stille liegt, die kein Erwachsener hört?

Aktuelle Erkenntnisse aus einer der seltenen Langzeitbeobachtungen junger Menschen zeigen: Suizidgedanken entstehen nicht immer plötzlich. Es gibt leise Wege dorthin, aber auch laute. Bei einigen beginnt dieser Weg bereits in den frühen Teenagerjahren, begleitet von auffälligem Verhalten und zugleich inneren Belastungen, die sich nicht in Noten oder Zeugnissen wiederfinden. Andere zeigen in dieser Zeit kaum etwas nach außen, tragen aber in sich ein unsichtbares Gewicht, das erst Jahre später spürbar wird.

Das macht es so schwierig: Wer nach außen rebelliert, bekommt Aufmerksamkeit, oft jedoch in Form von Ermahnungen oder Strafen. Wer nach innen leidet, fällt leicht durchs Raster. Die Mischung aus beidem, oder das reine „Leise-Leiden“, ist oft unsichtbar für Eltern und Lehrer, weil es nicht ins gewohnte Bild von „Problemkindern“ passt.

Nehmen wir ein Beispiel aus dem Alltag: Ein 13-jähriges Mädchen, das in der Schule streitet, zu Hause Türen knallt, aber auch immer wieder in ihrem Zimmer verschwindet, die Musik laut aufdreht und den Blickkontakt meidet. Die Eltern ärgern sich über das Temperament und übersehen die Momente, in denen es keine Wut gibt, sondern diese seltsame, bedrückende Leere. Oder der 17-jährige Junge, der unauffällig, freundlich und hilfsbereit ist, aber seit Monaten keine Einladung von Freunden mehr annimmt, weil ihm jede Begegnung zu schwer erscheint.

Die Forschung macht deutlich, dass wir beide Muster ernst nehmen müssen, nämlich die lauten und die stillen. Es reicht nicht, nur auf das Offensichtliche zu reagieren. Manchmal braucht es ein zweites, genaueres Hinsehen: nicht nur „Wie verhält er sich?“, sondern auch „Was könnte dahinterstecken?“ – und zwar schon in jungen Jahren.

Das heißt nicht, dass jeder Gefühlssturm oder jede Phase der Rückgezogenheit ein Alarmzeichen ist. Aber es heißt, dass wir als Gesellschaft und als einzelne Menschen wachsamer sein können. Gespräche über Gefühle sollten nicht erst geführt werden, wenn sie uns Sorgen machen. Sie sollten ein selbstverständlicher Teil des Alltags sein wie das gemeinsame Abendessen oder der morgendliche Gruß.

Schulen, Familien und Freundeskreise könnten hier wie Frühwarnsysteme sein. Nicht im Sinne von Kontrolle, sondern als Räume, in denen Gefühle, Sorgen und Ängste Platz haben. Denn oft sind es nicht die großen dramatischen Ereignisse, die eine Seele verletzen, sondern viele kleine Momente, in denen jemand innerlich ungehört bleibt.

Wenn wir lernen, auch die Zwischentöne zu hören, den sarkastischen Witz, der plötzlich bitter schmeckt, das Lächeln, das zu schnell wieder verschwindet, die auffällige Stille in einem sonst lebhaften Gespräch, dann erhöhen wir die Chance, nicht erst dann zu reagieren, wenn es fast zu spät ist.

Am Ende ist das vielleicht die wichtigste Erkenntnis: Prävention beginnt nicht mit einem Ratgeber oder einem Experten, sondern mit der schlichten Bereitschaft, einander wirklich zu sehen. Nicht nur den Lärm. Nicht nur das Schweigen. Sondern beides und sogar alles dazwischen.

Von Kamuran Cakir

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