Da war mal ein Freund, der von seinem Schwager erzählte. Ein großer Mann, 1,90 groß vielleicht, nicht besonders auffällig, aber auch nicht besonders unscheinbar. Ganz der Durchschnitt eben, wie so viele. In seinen Zwanzigern versuchte er es mit der Liebe, immer wieder, doch es klappte nie so richtig. Vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt, vielleicht nicht die richtige Frau, vielleicht auch nur das falsche Gefühl zur falschen Zeit. Irgendwann begegnete ihm eine kleine, zierliche Frau, auch sie durchschnittlich im äußeren Bild, aber etwas an ihr ließ ihn bleiben. Es kam zur Ehe, es kamen Kinder, ein Sohn, eine Tochter, ein Vorstadthäusschen, das vollkommene Familienbild also, wie man es aus Bilderrahmen kennt.

Doch Jahre später erzählt der Freund mir mit leiser Stimme von dunkleren Tönen im Alltag dieses Paares. Von einer Eifersucht, die nicht nur an der Oberfläche kratzt, sondern wie ein feiner Nebel das ganze Haus durchzieht. Vom gemeinsamen Einkauf, der mehr nach Überwachung schmeckt als nach Nähe. Von Kameras am Haus, die still mitsehen, sogar wenn niemand hinsieht. Von Ferienhäusern, die nicht gemeinsam bewohnt werden, weil der Kontakt zur eigenen Schwägerin schon zu viel wäre für diesen Mann. Es klingt absurd, fast grotesk, und doch ist es real, und das macht es umso erschreckender. Was ist das für eine Liebe, die Freiheit wie Feindseligkeit behandelt?

Diese Frau, die früher selbstbewusst wirkte, eigenständig, mit Ausbildung und Beruf, wird nun als isoliert beschrieben. Einmal war sie selbstbewusst in Arbeit mit einem Pkw unabhängig, jetzt scheint sie nur noch Teil eines Sicherheitskonzepts zu sein, das nicht der Sicherheit, sondern dem Besitz dient. Hier stellt sich leise eine konkrete Frage, ja  beinahe schon schamvoll. Nämlich die Frage danach, ob das denn schon Gewalt ist. Und wenn ja, was für eine ist sie?

Sie ist die psychische Gewalt, die kein Donnerschlag ist, die keinen blauen Fleck hinterlassen kann. Sie ist leise, wie das Ticken einer Uhr in einem Raum, den man nicht verlassen darf. Sie beginnt nicht mit der Kontrolle, sondern mit einem Blick. Mit einem Satz wie „Zieh das nicht an“. Mit einem „Ich will nur, dass du sicher bist“. Und irgendwann ist sie überall. Psychologische Forschung spricht von Coercive Control, einer Form von Machtausübung, die sich nicht laut, sondern systematisch entfaltet. Die Betroffenen merken es oft nicht sofort, denn es beginnt im Kleid der Fürsorge.

Und doch liegt darin die eigentliche Tragik. Denn wer einmal in diese Rolle geraten ist, findet schwer wieder hinaus. Die Opferrolle ist kein plötzlicher Sturz, sondern ein allmähliches Einsinken in ein Netz aus Kontrolle, Angst und Abhängigkeit. Viele Frauen und auch Männer erkennen erst nach Jahren, dass sie längst nicht mehr selbst über sich entscheiden. Nicht, weil sie schwach sind, sondern weil sie gehofft haben, gehofft auf Besserung, auf Verständnis, auf den Menschen, den sie einst liebten.

Zurück zu dem Mann aus unserer Geschichte, wirkt dieser wie ein klassischer Fall dieser Machtausübungsform. Seine extreme Eifersucht ist kein Zeichen der Liebe, sondern der Unsicherheit, der Angst, nicht genug zu sein. Vielleicht hat ihn die lange Zeit der erfolglosen Beziehungen geprägt, vielleicht lebt in ihm ein verletztes Kind, das sich heute in einem erwachsenen Körper verbirgt, der eine Größe von 1,90 m misst, aber sich innerlich klein fühlt. In der Psychoanalyse würde man sagen, dass sein Ich sich durch Kontrolle zu stabilisieren versucht. Nur dass diese Kontrolle kein Ich schützt, sondern andere verletzt.

Was aber ist mit den Kindern in dieser Beziehung? Sie wachsen auf in einem Umfeld, in der Nähe mit Misstrauen gepflastert ist, in der Entscheidungen nicht gemeinsam getroffen, sondern diktiert werden. Kinder spüren mehr, als wir ihnen zutrauen. Sie sehen, wenn der Blick der Mutter flackert. Sie hören das Schweigen, das lauter ist als jedes Geschrei. Und sie lernen, was sie später lieben werden oder wovor sie fliehen. Die emotionale Atmosphäre eines Hauses schreibt sich tief in ihre Biografie ein, lange bevor sie Worte dafür finden.

Und wir? Die Außenstehenden? Sind wir Mittäter, wenn wir schweigen? Wenn wir verstehen, aber nicht handeln? Wenn wir Unbehagen verspüren, aber es höflich ignorieren, weil man ja nicht übertreiben will? Vielleicht ist Schweigen nicht neutral, sondern ein leiser Beifall für das, was man nicht ändern möchte.

Doch was tun, wenn man nur Zuhörer ist, wenn der Kontakt lose ist, wenn alles auf Erzählungen basiert? Niemand will ein Drama schüren, wo keins ist. Und doch ist die Grenze zwischen Interpretation und Intuition sehr schmal. Und manchmal ist das vage Gefühl eines Freundes der einzige Hinweis auf etwas, das zu lange im Verborgenen geschieht.

Wer handeln will, muss nicht schreien. Manchmal reicht es, zuzuhören. Die Frau zu stärken, wenn sich ein Moment ergibt. Ihr ganz ohne Worte zu zeigen, dass sie nicht allein ist. Vielleicht muss man auch mit dem Freund darüber sprechen, was man gemeinsam tun kann. Und manchmal muss man sich einfach nur eingestehen, dass man nicht alles retten kann, aber dass es dennoch falsch wäre, gar nichts zu versuchen.

Es ist kein Zeichen von Liebe, wenn Freiheit zur Bedrohung wird. Es ist kein Zeichen von Fürsorge, wenn Nähe zur Kontrolle wird. Und es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn jemand geht, um sich selbst zu schützen. Denn Veränderung beginnt manchmal schon damit, dass jemand hinsieht und nicht mehr wegschaut.

Und wer weiß, vielleicht beginnt auch der Wandel nicht mit einem Befreiungsschlag, sondern mit einem leisen Gedanken, der irgendwann laut wird. Vielleicht auch mit einem Artikel wie diesem.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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