Manchmal sind es nicht die Worte, die schwer wiegen, sondern das, was zwischen ihnen liegt. Es ist die Erwartung, dieses leise, fast unsichtbare Gewicht, das sich in Gesprächen versteckt, in Blicken, in kleinen Sätzen, die klingen wie beiläufig dahin gesagt und doch eine ganze Welt in sich tragen. Man soll da sein, und zwar immer. Nämlich immer dann, wenn der andere ruft, wenn der andere fährt, wenn der andere nur kurz vorbeischauen möchte, wenn eigentlich gerade etwas ganz anderes Priorität hat, so zum Beispiel Urlaub, oder einfach das Bedürfnis, heute nicht zu müssen.
In vielen Familien scheint es ein unausgesprochenes Gesetz zu geben, wonach die eigenen Bedürfnisse da sein dürfen, aber bitte möglichst leise. Und am besten erst dann, wenn alle anderen versorgt, begrüßt, verabschiedet und wieder zusammengeführt sind. Besonders Eltern kennen dieses Gefühl. Jahre, manchmal jahrzehntelang war es selbstverständlich, dass sie „funktionieren“, dass sie auffangen, mitfahren, mitfühlen, einfach immer da sind. Jawohl, dass sie bedingungslos und zu jeder Zeit immer da sind. Auch dann, wenn ihre eigenen Kräfte längst aus dem Takt geraten sind.
Und plötzlich kommt der Moment, in dem sie sagen: „Wir möchten dieses Jahr Weihnachten anders verbringen.“oder „Wir fliegen weg.“ Es ist nicht einmal ein lauter Bruch, es ist auch kein Kampf, sondern eher ein feiner, kaum merklicher Riss im Bild, das andere von einem haben. Die Reaktionen reichen von leiser Irritation bis zu offener Enttäuschung. Denn was bedeutet das? Dass Eltern plötzlich etwas anderes vorziehen? Dass sie nicht mehr jederzeit erreichbar sind? Dass sie eigene Wege gehen, ohne vorher zu fragen?
Viele Kinder, selbst wenn sie längst erwachsen sind, reagieren darauf mit Unverständnis. Nicht aus Bosheit, sondern aus einem tief verwurzelten Gefühl heraus. Eltern sind doch schließlich immer da. Das ist ihr Job. Das war doch schon immer so. Warum sollte es jetzt anders sein? Und genau hier wird es spannend. Denn diese Art von Erwartung ist selten bewusst, sie ist gewachsen wie eine Pflanze, die nie zurückgeschnitten wurde. Gepflegt von Fürsorge, gegossen mit Hingabe. Und plötzlich nimmt sie so viel Raum ein, dass sie andere Bedürfnisse überwuchert.
Es ist ein Phänomen, das Soziologen und Psychologen schon lange beschäftigt. Bindung, sagen sie, kann trösten, aber auch fesseln. Wer zu leidenschaftlich für andere da war, dem wird die eigene Freiheit manchmal zum Vorwurf gemacht. Nicht offen, nicht direkt, aber entschieden spürbar. In dem Seufzer am Telefon, wenn man absagt. In dem stillen Vorwurf, wenn man nicht winkt, obwohl man das Flugzeug schon verpasst hätte, um rechtzeitig zu Hause zu sein. In dem „Ich hätte mich so gefreut“, das nichts anderes bedeutet als „Ich hätte erwartet, dass du mich vor deine Pläne stellst“.
Und doch ist es nicht immer so schwarz-weiß, wie es scheint. Denn auch die andere Seite ist oft nicht ganz frei von Schuldgefühlen. Da ist dieser Gedanke, ob man vielleicht zu hart war, zu egoistisch. Ob man nicht doch hätte aufstehen, losfahren, dabei sein sollen. Ob man den anderen enttäuscht hat, nur weil man sich selbst nicht vergessen wollte. Diese Gedanken brennen leise, sie stellen infrage, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, nämlich das eigene Recht auf Rückzug, auf Prioritäten, auf einen Urlaub, der Urlaub sein darf.
Was steckt also dahinter? Vielleicht ist es nicht nur Erziehung. Nicht nur Familienkultur. Vielleicht ist es auch eine tief menschliche Sehnsucht nach Beständigkeit, nach Ritualen, nach dem sicheren Gefühl, dass die Menschen, die uns wichtig sind, uns nicht entwachsen. Dass Eltern bleiben, wie wir sie brauchen. Dass Kinder verfügbar sind, wenn wir Halt suchen. Dass Nähe verlässlich ist, auch wenn das Leben sich verändert. Es ist nicht falsch, das zu wollen. Aber es wird schwierig, wenn daraus eine Forderung wird.
Der Schlüssel liegt, wie so oft, im Gespräch. Aber nicht in Gesprächen, die man führt, um Erwartungen durchzusetzen. Sondern in solchen, die Fragen stellen. Wie wichtig ist es dir, dass ich komme? Und wie sehr kostet es mich? Was ist dir gerade Bedürfnis und was ist Pflichtgefühl? Wenn wir lernen, diese Fragen offen zu stellen, ohne Scham, ohne Anklage, dann verändert sich etwas. Dann wird aus Pflicht vielleicht wieder echte Nähe. Dann kann man sich begegnen, ohne sich zu verlieren.
Und wer weiß, vielleicht steckt in dieser Reibung ja sogar ein kleiner Schatz. Ein Hinweis darauf, wo man sich selbst zu oft übergangen hat. Oder wo man anderen mehr Freiheit zugestehen darf. Es geht nicht darum, weniger füreinander da zu sein. Sondern darum, bewusster da zu sein. Nicht aus Schuld, sondern aus freiem Herzen. Und das fühlt sich ganz anders an.
