Es gibt diese unscheinbaren Szenen im Alltag, in denen sich ein ganzes Lehrbuch über Gefühle abspielt. Ein Kind sitzt am Frühstückstisch, schaut auf das Gesicht der Mutter, die Stirn leicht in Falten, der Blick abwesend, der Kaffee längst kalt. Das Kind ist überzeugt, sie sei verärgert. Später erfährt es, sie war nur müde. Genau in solchen Momenten zeigt sich der Unterschied zwischen dem Erkennen eines Ausdrucks und dem wirklichen Verstehen des Gefühls dahinter.

Kinder beginnen ihr Leben mit einer erstaunlich treffsicheren Wahrnehmung von Gesichtern. Schon sehr früh können sie die Grundmuster von Freude, Wut, Angst oder Traurigkeit unterscheiden. Doch das allein sagt noch nichts darüber aus, warum jemand so schaut. Mit den Jahren verschiebt sich der Schwerpunkt. Was am Anfang fast nur durch die Augen aufgenommen wird, wird später zunehmend von Erfahrung, Sprache und Wissen gefärbt. Aus bloßen Gesichtszügen wird eine Bedeutung, aus einem Blick wird eine Geschichte.

Am Anfang ordnen Kinder vieles in einfachen Kategorien ein. Lächeln bedeutet „gut“, Stirnrunzeln bedeutet „nicht gut“. Mit jedem Jahr aber wächst ihr inneres Vokabular. Sie lernen, dass Wut nicht dasselbe ist wie Angst, dass Traurigkeit andere Gründe hat als Enttäuschung, dass Sorge oft sanfter ist, als sie aussieht. Diese Entwicklung geschieht nicht im stillen Kämmerlein, sondern im Zusammenspiel mit Sprache, Beobachtung und Erlebnissen. Wenn ein Kind sieht, dass der strenge Lehrer eigentlich besorgt ist, oder dass ein zurückhaltender Mitschüler nicht abweisend, sondern schüchtern ist, verfeinert sich sein innerer Kompass.

Im Gehirn laufen dabei zwei Prozesse Hand in Hand. Einer arbeitet schnell und automatisch, wonach Augen, Mund und Stirn wie Muster erkannt werden. Der andere ist langsamer, dafür tiefgründiger, indem er nach dem passenden Zusammenhang sucht, nach den Gründen fragt, Erinnerungen und Gelerntes filtert. Mit zunehmendem Alter gewinnt dieser zweite Prozess an Gewicht. Das führt dazu, dass Kinder nicht mehr nur sehen, wie jemand schaut, sondern immer besser verstehen, warum er so schaut.

Man kann diese Entwicklung wunderbar im Alltag beobachten. Ein Kind kommt nach Hause, wirft die Tasche in die Ecke, das Gesicht angespannt. Die Eltern reagieren streng, weil sie Ärger sehen. In Wahrheit war es einfach überfordert vom Tag. Oder eine Freundin weint, und das Kind sagt nur, es solle aufhören, weil es selbst nicht weiß, wie es mit Tränen umgehen soll. In beiden Fällen fehlen die Worte und die Vorstellung, dass hinter dem Ausdruck mehr steckt als das Offensichtliche.

Deshalb ist es so wertvoll, Kindern die Sprache für Gefühle zu geben, nicht nur Namen wie „traurig“ oder „wütend“, sondern auch die feinen Unterschiede, die oft den Kern ausmachen. Das geschieht in Gesprächen beim Abendessen, auf dem Heimweg von der Schule, in stillen Momenten vor dem Einschlafen. Man kann ihnen zeigen, wie man selbst sortiert: „Ich bin nicht wütend, ich bin angespannt, weil gleich ein wichtiges Gespräch ansteht.“ Solche Sätze öffnen Türen.

Auch spielerische Methoden helfen. Theaterübungen, bei denen Kinder Gefühle pantomimisch darstellen und andere raten, fördern sowohl das Beobachten als auch das Erklären. Bücher, in denen Figuren etwas ganz anderes fühlen, als sie zeigen, schärfen den Blick für verborgene Schichten. Humor tut sein Übriges, denn wenn Papa beim Spiel verliert und grimmig schaut, darf man ihn necken, das sei sein „Ich-verliere-ungern-Gesicht“.

Diese Fähigkeit wächst ein Leben lang weiter. Jugendliche lernen, feiner zu unterscheiden, Erwachsene passen ihr Verständnis an neue Erfahrungen an, so etwa bei einem Jobwechsel, in einer neuen Partnerschaft oder nach schwierigen Zeiten. Wer früh lernt, nicht nur zu sehen, sondern zu fragen und zuzuhören, bleibt beweglich und empathisch.

Für Kinder, die mit sozialen Hürden zu kämpfen haben, ist diese Botschaft besonders ermutigend. Denn sie brauchen keine angeborene Gabe, sondern regelmäßige Übung, viele Beispiele und ein Umfeld, das Fehler nicht als Makel sieht. Ein Gesicht ist kein Rätsel, das man knacken muss, sondern eine Geschichte, die man lesen lernen kann. Und je öfter jemand neben ihnen sitzt und mitliest, desto eher werden sie diese Geschichten irgendwann selbst aufschlagen und wirklich verstehen.

Von Kamuran Cakir

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