Es gibt Tage, an denen wir innerlich stolpern, noch bevor wir das Haus verlassen. Vielleicht war es der Blick in den Spiegel, der uns kritischer mustert als jeder andere Mensch es je tun würde. Vielleicht war es ein Satz, der im Gespräch falsch herauskam und uns seit Stunden nachhängt. Diese Momente kennen wir alle. Manchmal sind es nicht die die anderen da draußen, die uns das Leben schwer macht, sondern wir selbst.

Selbstmitgefühl ist in solchen Augenblicken der sanfte Gegenpol. Es heißt, sich nicht nur in Erfolgen zu mögen, sondern auch dann freundlich zu bleiben, wenn wir scheitern oder nicht unseren eigenen Ansprüchen genügen. Das klingt simpel, doch in der Praxis ist es oft das Schwierigste überhaupt. Unser Nervensystem reagiert auf Stress und Selbstkritik wie auf einen Angriff, der Herzschlag schlägt höher, der Gedankenkarussell geht an, man verspürt eine plötzliche Anspannung überall am Körper. Wer hier den Schalter umlegen möchte, braucht Übung.

Und genau bei dieser Übung gibt es eine überraschende Unterstützung, nämlich ein kleines technisches Hilfsmittel, das so unscheinbar wirkt, dass man es fast übersieht. Es ist etwa so groß wie ein kleiner Ohrclip oder ein leichter Kopfhöreraufsatz. Setzt man es an eine bestimmte Stelle am äußeren Ohr, sendet es winzige, schmerzfreie Impulse. Das Ziel ist ein bestimmter Nerv, und zwar der Vagusnerv. Er ist so etwas wie eine unsichtbare Kommunikationsleitung zwischen Gehirn und den wichtigsten Organen, vom Herz bis zum Verdauungssystem. Wenn er sanft angeregt wird, fällt es dem Körper oft leichter, vom Stressmodus in den Ruhemodus zu wechseln.

Nun ist das allein noch kein Wundermittel. Die eigentliche Veränderung entsteht erst, wenn diese Impulse mit einer Meditation kombiniert werden, die Selbstmitgefühl und Achtsamkeit trainiert. Die Meditation sorgt für die innere Haltung, das Gerät gibt einen kleinen Anschub, damit der Effekt schneller spürbar wird. Erste wissenschaftliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass Menschen, die beides zusammen nutzen, schneller und intensiver in diesen freundlichen, klaren Zustand finden als Menschen, die nur eines davon praktizieren.

Aber, und das ist wichtig,  es geht auch ohne. Der Vagusnerv lässt sich auf ganz natürliche Weise anregen: durch tiefes, langsames Atmen, durch das Verlängern der Ausatmung, durch sanfte Bewegung oder sogar durch Lachen. Wer regelmäßig kleine Pausen in den Tag einbaut, bewusst ausatmet, die Schultern entspannt und sich selbst mit einem wohlwollenden inneren Satz anspricht, trainiert diesen Nerv ebenfalls. Nur braucht es, wie bei jedem Training, Zeit, bis der Effekt spürbar wird. Das Gerät kann diesen Weg eben  verkürzen, aber es ist kein Ersatz für den Weg selbst.

Für den Alltag heißt das, dass Selbstmitgefühl nicht nur eine schöne Idee ist, sondern eine Übung, die uns widerstandsfähiger macht. Wenn das Leben wieder einmal die Geschwindigkeit hochschraubt, können wir uns bewusst kleine Inseln schaffen. Vielleicht reicht schon ein Moment im Auto vor dem Losfahren, ein tiefer Atemzug in der Mittagspause oder ein freundlicher Gedanke, wenn etwas schiefgeht. Wer zusätzlich die technische Unterstützung ausprobieren möchte, kann dies tun, aber immer mit der Klarheit, dass die wahre Arbeit in der inneren Haltung liegt.

Denn am Ende ist es nicht das Summen eines Geräts, das uns verändert. Es ist der Moment, in dem wir aufhören, uns selbst im Weg zu stehen, und beginnen, uns zu unterstützen wie einen guten Freund. Alles andere, ob Impuls am Ohr oder ruhiger Atem, ist nur die helfende Hand, die uns daran erinnert, dass es möglich ist.


Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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