Es gibt Erinnerungen, die nicht mit blauen Flecken zu erkennen sind und doch tiefer unter die Haut gehen als jede sichtbare Wunde. Sie liegen in Sätzen, die damals vielleicht beiläufig klangen, in einem Tonfall, der wie feiner Nieselregen auf die Seele fiel und doch ganze Landschaften verwüsten konnte. Worte, die Kinder zu hören bekommen, ob passiv oder direkt, sind wie Samen. Manche bringen Vertrauen und Zuversicht hervor, andere tragen bittere Früchte, die erst Jahre später zu schmecken sind.
Körperliche Gewalt lässt sich leichter benennen. Sie hinterlässt schließlich sichtbare Spuren, die ein Arzt sehen kann, Spuren, für die es Berichte, Diagnosen und oft auch rechtliche Konsequenzen gibt. Verbale Gewalt hingegen gleitet oft unbemerkt durch Türen und über Esstische hinweg. So wie ein plötzlicher abwertender Satz, der fällt oder auch nur ein sarkastisches Lachen, wenn ein Kind etwas zeigt, worauf es stolz ist. Es ist wie ein ständiges Herunterspielen von Gefühlen und kein Pflaster dieser Welt kann daran etwas ändern.
Die aktuelle Forschung zeigt, dass die seelischen Folgen verbaler Verletzungen denen körperlicher Misshandlungen nicht nachstehen. Manchmal sind sie sogar hartnäckiger, weil sie leise sind, unsichtbar, und weil das Umfeld sie oft nicht ernst nimmt. Wer als Kind regelmäßig hört, dass er „nichts kann“ oder „sich nicht so anstellen soll“, entwickelt nicht nur ein Bild von sich selbst, das durch die Augen anderer geformt wurde. Er lernt auch, dass seine eigenen Gefühle und Wahrnehmungen nicht zählen. Das kann im Erwachsenenalter zu einem brüchigen Selbstwert führen, zu einer inneren Stimme, die nicht ermutigt, sondern ständig zweifelt.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Während körperliche Gewalt in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen ist, nimmt verbale Gewalt stetig zu. Das mag daran liegen, dass sie oft nicht als Gewalt wahrgenommen wird. In einer Gesellschaft, die den schnellen Spruch und das ironische Wort feiert, fällt es leicht, schneidende Kommentare als „nicht so gemeint“ abzutun. Doch für ein Kind, dessen innere Welt noch geformt wird, ist jedes Wort ein Meißelschlag in das Fundament seiner Selbstwahrnehmung.
Und trotzdem bleibt ein Aspekt, der Hoffnung macht. Sprache kann mit Sicherheit zerstören, ja, aber sie kann auch heilen. Worte können ebenso wie Licht in ein dunkles Zimmer fallen, wenn sie Anerkennung, Verständnis oder Wärme transportieren. Ein „Ich glaube an dich“ kann natürlich nicht die Vergangenheit auslöschen, aber es kann beginnen, das verzerrte Selbstbild zu korrigieren. Wer als Erwachsener versteht, wie prägend Sprache ist, kann bewusst anders sprechen mit Kindern, mit Partnern und schließlich sogar mit sich selbst.
Vielleicht lohnt es sich, bei der nächsten Bemerkung einen Atemzug länger zu warten. Nicht, weil Worte immer weich sein müssen, sondern weil sie große Wirkung haben. Manchmal reicht ein Satz, um ein Herz zu brechen. Manchmal reicht aber auch einer, um es wieder zusammenzufügen. Und vielleicht liegt in diesem Bewusstsein die eigentliche Verantwortung, die wir alle tragen, und das nicht nur gegenüber Kindern, sondern gegenüber jedem Menschen, der uns zuhört.
Wenn man so will, ist der Mund ein Werkzeug, das täglich Formarbeit leistet am Selbstbild anderer. Die Frage, die sich stellt, ist nur, sind wir Baumeister oder Abrissunternehmer.
