Es gibt Tage, an denen man abends kaum sagen kann, was man eigentlich erlebt hat. Sie verschwimmen, wie Farben, die zu lange in der Sonne lagen. Ein Frühstück, das wie jedes andere war, der Weg, den man schon hundertmal gegangen ist, ein Gespräch, das kaum anders klingt als gestern. Und dann kommt dieses merkwürdige Gefühl, als hätte sich das Leben unbemerkt beschleunigt. Als würden die Wochen heimlich verkürzte Stunden tragen.
Früher, als wir noch kleiner waren, dehnte sich ein Sommer aus wie ein Kontinent. Jeder Tag schien eine eigene Geschichte zu schreiben. Wir kannten noch das Kribbeln, wenn wir etwas zum ersten Mal taten. Die ersten Schlucke von Limonade, die auf der Zunge prickelten, als wäre sie ein Zaubertrank. Das Staunen, wenn Schnee vom Himmel fiel und jedes Geräusch leiser machte. Sogar ein Sturz mit aufgeschürften Knien war ein Abenteuer, weil wir es noch nie zuvor so gefühlt hatten. Damals war jeder Tag gespickt mit Momenten, die sich im Gedächtnis festhaken konnten.
Heute gleitet vieles vorbei wie ein Film, den man schon kennt. Wir wachen auf, blicken auf denselben Bildschirm, hören ähnliche Stimmen, fahren denselben Weg. Unser Gehirn, dieses großartige Archiv, reagiert darauf wie auf alte, längst sortierte Akten. Es legt kaum noch neue Ordner an, weil nichts aus dem Muster fällt. Und während wir so weitermachen, schleicht sich die Zeit davon. Nicht schneller als früher, aber unauffälliger, weil wir sie nicht mehr festhalten.
Die Forschung sagt, dass unser Zeitempfinden eng damit verknüpft ist, wie viele neue Reize wir verarbeiten. Kinder erleben mehr „erste Male“ und haben dadurch das Gefühl, ihre Tage seien länger. Erwachsene, deren Alltag zu sehr in Wiederholung erstarrt, erleben genau das Gegenteil. Das erklärt, warum ein Jahr in der Kindheit wie ein Roman wirkte und als Erwachsener manchmal nur wie ein kurzer Absatz.
Doch es gibt einen Ausweg, und er beginnt nicht in der Uhr, sondern in uns. Wer möchte, dass ein Tag sich weit anfühlt, muss ihm Gehalt geben. Man kann den Heimweg durch eine fremde Straße lenken und dabei feststellen, dass der Bäcker an der Ecke nach Zimt riecht. Man kann ein Gespräch beginnen mit jemandem, der bisher nur ein Gesicht in der Menge war, und merken, dass dort Geschichten warten, die man nie vermutet hätte. Man kann sogar dem eigenen Frühstück ein neues Kapitel geben, indem man es auf der Parkbank statt am Küchentisch isst.
Es geht nicht darum, ständig große Abenteuer zu suchen, sondern kleine Abweichungen zuzulassen, die unser Gehirn zwingt, wieder aufmerksam zu sein. Wer das regelmäßig tut, merkt, dass sich die Tage wieder dehnen. Sie werden zu Räumen, die man durchschreiten kann, statt zu Schläuchen, die man hindurchrutscht.
Vielleicht liegt darin das Geheimnis, die Geschwindigkeit des Lebens ein Stück weit zu zähmen. Nicht indem wir der Zeit nachjagen, sondern indem wir ihr Gelegenheiten geben, Spuren zu hinterlassen. Dann kann ein einziger Nachmittag wieder das Gewicht eines ganzen Kapitels tragen. Und wir werden irgendwann zurückblicken und nicht nur zählen, wie viele Jahre vergangen sind, sondern erinnern, was sie gefüllt hat.
