Momente gibt es, da begegnet uns die Welt in Formen, die gar nicht so sind, wie wir sie sehen. Ein Hügel zum Beispiel, der aus der Ferne bedrohlich steil wirkt, entpuppt sich beim Näherkommen als halb so wild. Und doch bleibt das Gefühl bestehen, dass er viel schwerer zu erklimmen ist, als er tatsächlich ist. Die Wissenschaft hat inzwischen bestätigt, was viele von uns unbewusst schon erlebt haben, dass eben unsere Augenhöhe uns gerne Streiche spielt. Das bedeutet konkret, je niedriger wir auf die Welt blicken, desto steiler erscheint sie uns. Man könnte damit sagen, dass das, was beispielsweise für Kinder als unüberwindbare Hügel, Bordsteinkanten oder Treppenstufen gilt, kann man eigentlich mit einem Augenzwinkern auch auf unser Leben übertragen.

Wenn wir sitzen oder gar liegen, und unser Blick also nah am Boden bleibt, neigen wir dazu, die Steigung einer Fläche noch stärker zu überschätzen. Erwachsene, die sich auf eine Yogamatte legen, berichten, dass selbst eine einfache Holzrampe gefühlt zu einem kleinen Mount Everest anwächst. Kinder kennen diesen Effekt nur zu gut. Für sie wirken die Stufen zur Haustür wie ein Kletterabenteuer, während die Eltern sie lässig nehmen, als sei da gar nichts. Mit dem Größerwerden verändern sich nicht nur die Beine, sondern auch die Augenhöhe, und plötzlich scheint dieselbe Treppe viel weniger dramatisch für das Kind.

Das Spannende daran ist nicht allein, dass wir uns so oft irren, sondern was dieses Phänomen über unser Leben tatsächlich erzählt. Denn je nachdem aus welcher Perspektive wir die Dinge betrachten, wirken Herausforderungen unüberwindbar oder spielend leicht. Wer schon einmal von einem Kleinwagen in einen Lastwagen gewechselt hat, kennt dieses Gefühl, wonach olötzlich die Straße weit und überschaubar aussieht, selbst wenn es dieselbe Kurve ist, die vorher eng und scharf wirkte. Es ist so, als würde sich die Welt um uns herum verändern, und dabei ist es nur unser Blickwinkel.

Im Alltag begegnet uns diese kleine optische Täuschung häufiger, als uns lieb ist. Ein Problem im Beruf oder im Privatleben kann wirken wie eine fast senkrechte Wand, an der kein Halt zu finden ist. Doch wenn wir uns innerlich ein Stück „größer stellen“, wenn wir die Perspektive wechseln, verliert die Wand ihre Drohkulisse und verwandelt sich in eine machbare Steigung. Genau wie der Hügel, der beim Näherkommen immer weniger furchteinflößend aussieht.

Die Forschung zeigt, dass Menschen im Durchschnitt eine Neigung um rund die Hälfte überschätzen. So wird also eine 30-Grad-Rampe gerne als 45 Grad empfunden. Und diese Fehleinschätzung verstärkt sich, je näher unser Blick am Boden liegt. Übertragen auf das Leben heißt das, wer zu tief in einer Situation steckt, wer keine Distanz einnimmt, der erlebt Probleme oft größer, als sie wirklich sind. Ein kleiner Schritt zurück oder ein gedankliches „Hochsteigen auf die Leiter“ kann schon ein Wunder wirken.

Und gerade darin steckt vielleicht auch schon eine stille Einladung. Denn nicht nur Berge und Hügel, sondern auch Sorgen, Aufgaben und Ziele lassen sich aus verschiedenen Höhen betrachten. Für ein Kind ist der Bordstein ein Abenteuer, für einen Erwachsenen ein kaum erwähnenswerter Schritt. Wer weiß schließlich, wie viele unserer Alltagsprobleme genau so funktionieren, nämlich beeindruckend groß aus einer niedrigen Perspektive, aber zugleich handlich klein, sobald wir innerlich wachsen.

Es lohnt sich also, hin und wieder bewusst die Augenhöhe zu verändern. Sei es im wortwörtlichen Sinn, wenn wir uns hinknien, um die Welt aus Kindersicht zu erleben, oder im übertragenen Sinn, wenn wir Abstand gewinnen, um das Große und Ganze zu sehen. Am Ende zeigt uns dieser unscheinbare Trick unserer Wahrnehmung, dass die Welt nicht so steil ist, wie wir oft glauben. Es ist unsere Haltung, die entscheidet, ob wir uns am Fuß eines Berges klein fühlen oder ob wir ihn als machbare Strecke erkennen, die uns weiterführt.

Von Selma Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel