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Da sitzt man mal einem Menschen gegenüber, vielleicht am Küchentisch, vielleicht in einer dieser viel zu hellen Bahnwagons, und unterhält sich über dies und das; und dann wundert man sich auf einmal, warum bestimmte Worte einen so sehr treffen, so als hätten sie ein lang gespeichertes Echo berührt. Und während man versucht, das Gespräch weiterzuführen, spürt man, wie etwas Unausgesprochenes mitschwingt. Etwas, das älter ist als jede aktuelle Situation. Die Psychologie würde sagen, das sind „Beziehungsmuster“. Ich aber würde sagen, das sind die Spuren, die unsere Kindheit in uns hinterlassen hat, zwar recht unsichtbar, aber erstaunlich beständig.

Menschen, die in ihrer Kindheit Wärme, Verlässlichkeit und ein Mindestmaß an emotionaler Ruhe erfahren haben, tragen oft eine Art inneren Anker in sich. Man sieht es nicht, doch man bemerkt es in den kleinen Situationen, im tiefen Ausatmen nach einem Streit, im Mut, eine Schwäche zuzugeben, oder darin, jemanden an sich heranzulassen, ohne schon beim ersten Schritt die Fluchtwege zu markieren. Andere wiederum leben mit einem inneren Kompass, der immer ein bisschen schwankt. Sie hoffen auf Nähe und fürchten sie gleichzeitig, verlassen sich lieber auf sich selbst, und wenn sie lieben, dann jedoch oft mit angezogener Handbremse, nicht aus fehlendem Willen, sondern aus einer gelernten Vorsicht.

Die aktuelle Forschung zeigt in der Tat, dass diese Muster kein Zufall sind und erst recht kein Charakterfehler. Sie sind vielmehr eine Art emotionales Gedächtnis. Die Psychologen sprechen davon, dass frühe Beziehungserfahrungen, und das nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch in den Freundeskreisen, wie kleine Protokolle gespeichert werden. Nicht in Sätzen, sondern in Erwartungen. Ohne dass wir es bewusst bemerken, prägen diese frühen Eindrücke, wie wir im Erwachsenenalter Nähe zulassen, Konflikte lösen oder Vertrauen entwickeln.

Spannend ist, dass sich die Wissenschaft immer wieder über etwas freut, das viele Eltern zu unterschätzen scheinen. Dass Kinder nämlich  nicht nur merken, ob sie geliebt werden, sondern auch zugleich merken, wie sie geliebt werden. Ob man ihnen zuhört, wenn sie mit leuchtenden Augen erzählen, wie ihre Schnecke angeblich einen Sprint hingelegt hat. Ob man ihnen glaubt, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Ob man da ist, wenn die Welt mal fünf Minuten zu groß erscheint. Und genau diese feinen emotionalen Schattierungen, eben nicht die großen Ereignisse, scheinen später zu entscheiden, wie sicher oder unsicher sich Menschen in Beziehungen bewegen.

Es ist fast tröstlich, dass auch Freundschaften in jungen Jahren einen starken Einfluß darauf haben, wie wir als Erwachsene lieben. Die beste Freundin aus der Grundschule, mit der man im Streit den Stift abgebrochen hat und trotzdem am nächsten Tag nebeneinander saß. Oder der Freund, der einen verteidigte, als andere über den schief sitzenden Pony lachten. Solche Erlebnisse formen unser inneres Bild davon, wie Beziehungen funktionieren können, nämlich reparierbar, belastbar und vor allem verlässlich.

Was bedeutet das für uns heute? Vielleicht, dass wir mit uns selbst ein wenig milder sein dürfen, wenn wir uns in Beziehungen manchmal irrational verhalten. Man ist nicht kompliziert, weil man kompliziert sein möchte. Oft reagiert ein älteres Ich in uns,  eines, das sich einst schützen musste und nie gefragt wurde, ob es diesen Schutz noch braucht. Und gleichzeitig zeigt die Forschung auch, dass Beziehungsmuster nicht feststehen wie Beton. Sie passen sich an, verändern sich, entwickeln sich weiter, wenn man neue Erfahrungen macht, die stabiler und liebevoller sind als die alten.

Ein Mensch, der lernt, dass verlässliche Nähe möglich ist, ganz egal ob durch einen Partner, eine Freundschaft, eine Therapie oder durch das eigene Elternsein, kann sein Beziehungssystem nach und nach neu schreiben. Nicht löschen, aber überschreiben. So wie man ein altes, viel gelesenes Buch nicht weglegt, sondern ein zweites darüberlegt, das beim Lesen ein wenig mehr Licht in die Ecken fallen lässt.

Und vielleicht ist das die eigentliche Botschaft, die all diese Erkenntnisse vermitteln, zu verstehen, dass die Vergangenheit uns erklärt, aber sie uns nicht bestimmt. Sie flüstert mit, aber sie entscheidet nicht allein. Jeder Mensch kann im Laufe seines Lebens lernen, die alten Schatten neu zu betrachten, nicht um sie loszuwerden, sondern um zu verstehen, wie sehr sie das Licht in uns betonen.

Wer seine eigenen Muster erkennt, versteht plötzlich auch andere besser. Das macht uns geduldiger. Und vielleicht genau dadurch zu den Bezugspersonen, die wir uns selbst einmal gewünscht hätten. Denn am Ende muss man niemand perfekt lieben, um einen sicheren Bindungsstil zu fördern; man muss nur beständig genug sein, um ein warmes Gegenüber zu bleiben.

Und genau darin liegt die stille Kraft, die wir alle, ob bewusst oder unbewusst, weitergeben können. Ein kleines Stück emotionale Sicherheit und ein bisschen Verlässlichkeit, eben die Art von Erfahrung, die nicht nur Kinder stärkt, sondern später Erwachsenen hilft, mit ihren eigenen Herzen behutsamer umzugehen.

Wenn wir das wissen, beginnt jeder neue Kontakt, jede Freundschaft, jede Beziehung plötzlich mit einer Frage, die mehr in sich trägt, als man zunächst glaubt: „Welche Spur möchte ich hinterlassen?“

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel