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Menschen trauen ihren Augen. Manchmal auch noch ihren Ohren. Aber den Fingerspitzen wird selten zugetraut, dass sie mehr können als tippen, wischen oder halten. Dabei steckt in ihnen eine Feinfühligkeit, die wir im Alltag längst überdecken mit Displays, Handschuhen und Hektik. Ein paar Forscher in London haben sich allerdings genau das angeschaut und sind über etwas gestolpert, das uns allen eigentlich gefallen müsste. Unsere Hände können mehr, als wir ihnen zumuten. Sie können etwas ahnen, bevor sie etwas berühren. Sie können kleinste Veränderungen in einem körnigen Material wie Sand wahrnehmen und daraus schließen, dass da unten etwas liegt, zwar nicht sichtbar und auch nicht spürbar im klassischen Sinn, aber dennoch vorhanden.

Der Gedanke ist erst einmal irritierend, weil wir das sonst nur aus der Tierwelt kennen. Manche Strandvögel finden im feuchten Sand ihre Beute, ohne sie zu sehen. Sie spüren die winzigen Druckwellen, die sich durch die Körnchen ziehen, wenn sich etwas bewegt oder wenn darunter ein fester Körper liegt. Wir Menschen haben jedoch keinen Schnabel mit Spezialrezeptoren. Wir haben nur unsere Haut. Und dennoch, wenn die Bedingungen passen, registrieren unsere Fingerkuppen mechanische Veränderungen, die vom vergrabenen Objekt in den Sand zurücklaufen. Das ist nicht Magie. Das ist Physik, übersetzt in Biologie. Sand ist ein wunderbarer Überträger für feine Reflexionen. Und unsere Finger sind offenbar so gut kalibriert, dass sie dieses kaum hörbare „Echo“ über die Haut auffangen können.

In Versuchen hat man Menschen gebeten, im Sand versteckte Würfel zu lokalisieren, ohne sie anzufassen. Nur den Sand berühren. Nur tasten, nicht graben. Und es funktionierte viel besser, als man zuvor gedacht hatte. Die Hände reagierten auf minimale Verschiebungen, die sich um den Würfel herum bildeten. Interessant dabei ist weniger die Zahl am Ende des Experiments als die Erkenntnis dahinter. Der menschliche Tastsinn hört nicht da auf, wo die Haut endet. Er kann, wenn das Material mitspielt, ein kleines Stück „hinausreichen“. Eine Art Fernberührung, nicht so elegant wie beim Vogel, aber eindeutig nachweisbar. Das war so in der Fachwelt noch nicht dokumentiert. Man hat es einfach nie ernsthaft ausprobiert.

Warum ist das so spannend? Weil es unsere Vorstellung vom „Ich fühle etwas nur, wenn ich es direkt anfasse“ ein bisschen zurechtrückt. Denn hier zeigt sich eine stille analoge Fähigkeit, die wir tatsächlich im Körper tragen. Wir können Druckbilder in einem ungeordneten Medium deuten. Wir können aus einem Hauch von Widerstand eine Struktur ableiten. Das bedeutet schließlich auch, dass der Mensch nicht nur ein Wesen ist, das schaut und hört, sondern eines, das räumliche Informationen über Berührung viel reicher verarbeiten kann, als es uns der Alltag glauben macht.

Die Forscher haben das übrigens gleich mit einem Robotersystem verglichen, nämlich mit einem Arm, einem trainierten Sensor bzw. einem lernfähigen Algorithmus, und das alles sehr ordentlich und sehr maschinell. Natürlich hat der Roboter etwas gefunden, aber deutlich weniger als die Menschen. Das ist kein „Mensch gegen Maschine“-Triumphgeheul, sondern eher eine leise Erinnerung daran, dass unsere Haut und unser Gehirn seit Millionen Jahren gemeinsam daran arbeiten, Unregelmäßigkeiten, Vibrationen sowie Muster zu erkennen. Wir tun das beim Gehen auf unebenem Boden, beim Ertasten eines Reißverschlusses im Dunkeln, beim Unterscheiden von Stoffen. In Sand überträgt sich das nur besonders schön, weil die Körner die Bewegung weiterreichen. Und weil unsere Finger genau dafür gemacht sind, in diesen winzigen Spannungsunterschieden Sinn zu finden.

Für die Robotik ist das wiederum ein Geschenk. Wenn Menschen ohne Spezialorgan solche taktilen Vorahnungen nutzen können, dann lässt sich dieses Prinzip auch technisch nachbauen. Nicht, indem man den Roboter nur „besser programmiert“, sondern indem man ihm beibringt, auf die leichten Rückmeldungen im Material zu achten, nicht nur auf den Moment des direkten Kontakts. Das könnte bei Sondierungen helfen, bei archäologischen Arbeiten, bei Rettungseinsätzen in sandigem Untergrund oder am Meeresboden. Maschinen könnten dann wie ein vorsichtiger Mensch ertasten, ob da etwas ist, bevor sie grob zupacken. Die Natur gibt hier eine Richtung vor, der Mensch dient als Beweis, dass es auch ohne Spezialwerkzeug geht, und die Technik darf daraus eine kluge Lösung machen.

Aber jenseits dieser technischen Perspektive steckt noch etwas Persönlicheres in dieser Entdeckung. Sie erinnert daran, dass Wahrnehmung nicht nur das ist, was laute Reize liefern. Manche Empfindungen liegen im Bereich des „gerade noch spürbaren“. Wenn man sich Zeit lässt, wenn man nicht sofort greifen und haben will, sondern ganz leicht über eine Oberfläche fährt, dann sendet sie einem mehr Informationen, als man erwartet. Das gilt für Materialien und manchmal auch für Menschen. Ein feiner Druck, eine minimale Veränderung in der Umgebung, ein kaum merkliches Zurückweichen, das alles kann unser Körper  registrieren, wenn wir ihn nur lassen. Diese Studie zeigt das nur auf besonders anschauliche Weise.

Die Botschaft für uns kann deshalb ruhig größer sein als „Forscher haben herausgefunden, dass…“. Sie kann lauten, der menschliche Körper ist in einigen Disziplinen weiter als die Geräte, mit denen wir uns umgeben. Wir dürfen ihm mehr zutrauen. Wir dürfen wieder üben, langsam zu tasten. Wir dürfen akzeptieren, dass Sensibilität kein weiches, unnützes Extra ist, sondern ein hochpräzises Instrument zur Orientierung, manchmal sogar unter der Oberfläche. Wer Kinder am Strand beobachtet, wie sie mit den Händen im Sand wühlen, ohne dass sie etwas sehen können, bekommt eine Ahnung davon. Sie finden Muscheln, Härchen von Seegras oder kleine Steine. Und sie hören erst auf, wenn sie gefunden haben, was sie suchen. Genau diese suchende Neugier haben die Forscher wissenschaftlich eingefangen.

Gerade das ist am Ende die schönste Nebenwirkung dieser Arbeit, denn sie bringt uns auf die Idee, wieder mehr mit den Händen zu denken. Nicht nur zu tippen, nicht nur zu scrollen, sondern zu fühlen, wie sich Materialien verhalten, wenn darunter etwas liegt. Denn dort, wo Sand seine leise Sprache spricht, können wir Menschen offenbar zuhören. Nicht mit den Ohren, sondern mit der Haut. Und das ist mit Abstand eine stark beeindruckende Nachricht.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel