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Ob etwas, das man getan hat, oder etwas, das man nicht getan hat, ein Leben beeinflusst, zeigt sich selten im Moment selbst. Entscheidungen wirken oft unspektakulär, beinahe beiläufig. Ein Satz wird nicht gesagt, ein Anruf nicht gemacht, ein Gedanke vertagt. Und doch hinterlassen gerade diese stillen Momente Spuren. Nicht immer sichtbar, aber spürbar. Sie schreiben mit an der inneren Biografie, an der Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen. Und diese Geschichte entscheidet darüber, ob wir uns als handelnde Menschen erleben oder als Beobachter unseres eigenen Lebens.

Der Gedanke, dass es besser sei, etwas zu bereuen, das man getan hat, als etwas, das man unterlassen hat, klingt zunächst wie ein mutiger Leitspruch. Fast ein Trostpflaster für riskante Entscheidungen. Doch dahinter steckt weniger Draufgängertum als ein tiefes Verständnis menschlicher Psyche. Was wir tun, ist konkret. Es lässt sich erinnern, einordnen, manchmal entschuldigen, manchmal sogar verzeihen. Was wir nicht tun, bleibt dagegen diffus. Es bekommt keine klare Form, keinen Anfang und kein Ende. Unterlassen ist wie ein offener Satz, der nie zu Ende geschrieben wurde. Und genau deshalb hallt er oft länger nach.

Kurzfristig tut das Falsche, das man getan hat, oft mehr weh. Es ist sichtbar, manchmal peinlich, manchmal schmerzhaft. Man trägt Verantwortung, man kann sich nicht verstecken. Doch mit der Zeit verliert diese Art von Reue an Schärfe. Sie wird Teil der eigenen Entwicklung, manchmal sogar Teil einer guten Geschichte. Man kann sagen, dass man daraus gelernt habe. Man kann sich erinnern und gleichzeitig weitergehen. Unterlassen hingegen arbeitet leise. Es meldet sich nicht sofort. Es wartet. Oft zeigt es sich erst später, wenn ein Lebensabschnitt endet, wenn etwas vorbei ist, wenn man merkt, dass eine Tür sich nicht mehr öffnen lässt. Dann steht nicht ein Fehler im Raum, sondern eine Lücke. Und Lücken lassen viel Raum für Fantasie.

Das menschliche Denken ist besonders gut darin, alternative Wirklichkeiten zu entwerfen. Es malt aus, wie das Leben hätte sein können. Nicht realistisch, sondern idealisiert. Das nicht geführte Gespräch wird im Kopf perfekt. Die nicht angenommene Chance wird zur Erfolgsgeschichte. Die nicht gelebte Beziehung wird frei von Konflikten. Unterlassen bietet dem Geist eine Projektionsfläche, auf der alles gelingen darf. Genau das macht es so schwer auszuhalten. Denn gegen diese idealisierte Version der Vergangenheit wirkt das echte Leben fast zwangsläufig blass.

Hinzu kommt, dass Unterlassen sich im Moment selbst oft nicht wie eine Entscheidung anfühlt. Es tarnt sich als Vernunft, als Geduld, als Abwarten. Man sagt sich, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, dass man noch Informationen brauche, dass es später immer noch möglich sei. Und manchmal stimmt das sogar. Aber manchmal ist dieses spätere Irgendwann nichts anderes als ein sanftes Verschwinden der Möglichkeit. Nicht laut, nicht dramatisch, sondern schleichend. Und genau deshalb wird Unterlassen so selten bewusst verarbeitet. Es fehlt der klare Moment, an dem man sagen könnte: „Hier habe ich entschieden.“ Stattdessen bleibt das Gefühl, irgendwie nicht ganz dabei gewesen zu sein.

Gleichzeitig wäre es zu einfach, daraus eine pauschale Handlungsaufforderung zu machen. Nicht jedes Tun ist mutig, und nicht jedes Lassen ist feige. Es gibt Entscheidungen, bei denen Zurückhaltung Schutz bedeutet. Es gibt Situationen, in denen Nicht-Handeln Ausdruck von Verantwortung ist. Wer immer nur handelt, um später nichts zu bereuen, läuft Gefahr, sich selbst zu überfordern oder fremden Erwartungen hinterherzulaufen. Reue entsteht nicht nur aus Unterlassen, sondern auch aus Handlungen, die nicht zu den eigenen Werten passen. Der entscheidende Unterschied liegt also weniger im Tun oder Lassen, sondern darin, ob man sich selbst treu bleibt.

Ein oft übersehener Aspekt ist die Reue, die schon vor der Entscheidung entsteht. Dieses innere Vorwegnehmen möglicher Fehler beeinflusst unser Verhalten stärker, als wir glauben. Man vermeidet Gespräche, weil sie unangenehm werden könnten. Man probiert Dinge nicht aus, weil man sich das Scheitern bildlich ausmalt. Diese gedankliche Vor-Reue kann hilfreich sein, wenn sie vor echten Gefahren schützt. Sie kann aber auch lähmen, wenn sie dazu führt, dass man sich selbst immer wieder ausbremst, bevor überhaupt etwas passieren konnte. Dann wird Vorsicht zur Gewohnheit, und Gewohnheit zur Grenze.

Interessant ist, dass Reue sich je nach Umkehrbarkeit einer Entscheidung unterschiedlich anfühlt. Entscheidungen, die sich korrigieren lassen, verlieren schneller ihren Schrecken. Man kann zurückrudern, anpassen, neu justieren. Entscheidungen, die als endgültig erlebt werden, tragen mehr Gewicht. Doch auch hier gibt es einen Zwischenraum, den viele übersehen, undzwar die Tatsache, dass man nicht immer alles oder nichts wählen muss. Viele Entscheidungen lassen sich in kleine Schritte zerlegen. Ein vorsichtiges Ausprobieren, ein erstes Gespräch, ein Testlauf. Diese Zwischenformen sind oft unterschätzt, dabei nehmen sie dem Unterlassen seine Unauffälligkeit und dem Handeln seine Überforderung.

Was Unterlassen langfristig so schmerzhaft machen kann, ist seine Nähe zur Identität. Wer etwas tut und scheitert, kann sagen: „Ich habe es versucht.“ Wer etwas nicht tut, fragt sich später oft nicht nur, warum er es nicht getan hat, sondern was das über ihn aussagt. „War ich zu ängstlich? Zu bequem? Nicht mutig genug?“ Unterlassens-Reue richtet sich weniger auf die Situation als auf das eigene Selbstbild. Sie flüstert nicht, das war ein Fehler, sondern: „Vielleicht bin ich nicht der Mensch, der ich hätte sein können.“ Und genau dieser Gedanke trifft tiefer.

Ein hilfreicher Blickwinkel ist deshalb, Reue als Hinweis zu verstehen. Sie zeigt oft, wo eigene Werte und tatsächliches Verhalten auseinanderklaffen. Wer Nähe wichtig findet und sich immer wieder nicht meldet, wird diese Art von Reue kennen. Wer Freiheit schätzt und sich aus Sicherheitsgründen ständig zurückhält, spürt irgendwann eine innere Enge. Reue ist dann kein Gegner, sondern ein Signal. Sie weist darauf hin, wo etwas im Inneren nicht stimmig ist.

Vielleicht liegt der eigentliche Mehrwert der bekannten Lebensweisheit also nicht darin, immer mehr zu tun, sondern bewusster zu entscheiden. Unterlassen ist keine neutrale Zone. Es ist ebenfalls eine Entscheidung, nur ohne Geräusch. Und genau deshalb lohnt es sich, genauer hinzuhören. Nicht jede verpasste Gelegenheit ist tragisch. Aber manche sind es, weil sie still zeigen, wo man sich selbst aus dem Weg gegangen ist.

Am Ende geht es weniger darum, möglichst wenig zu bereuen, als darum, mit der eigenen Geschichte leben zu können. Handlungen hinterlassen Spuren, Unterlassungen hinterlassen Leerstellen. Beides gehört zum Menschsein. Doch während Fehler oft heilen können, indem man sie versteht, bleibt das Nicht-Gelebte häufig als leise Frage zurück. Nicht laut, nicht anklagend, aber beharrlich. Und manchmal reicht genau diese Frage, um beim nächsten Mal nicht automatisch zu warten, sondern sich selbst ein kleines Stück mitzunehmen.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel