Es gibt diese stillen Momente in Vereinen, in denen ein einzelner Anruf mehr über das Miteinander verrät als jede Sitzung, jeder Tagesordnungspunkt, jedes Protokoll. Ein Telefonklingeln genügt, und plötzlich steht man zwischen Hingabe und Anspruch, zwischen Engagement und Erwartung, zwischen dem, was Ehrenamt wirklich bedeutet, und dem, was einzelne daraus zu machen versuchen. In solchen Momenten beginnt ein inneres Sortieren, ein leises Fragen: „Seit wann misst man Freiwilligkeit in Anwesenheitsminuten? Und wer hat eigentlich beschlossen, dass Einsatz nur dann zählt, wenn er durch eine Tür in einen Sitzungssaal tritt?“
Ehrenamt ist eine der ältesten Formen der Gemeinschaftsarbeit. Es funktioniert, weil Menschen aus eigenem Willen handeln, nicht weil jemand ihnen sagt, wann sie zu erscheinen haben. Die Forschung zu Motivation und freiwilligem Engagement beschreibt dieses Prinzip mit feinen Worten wie intrinsische Motivation, Selbstwirksamkeit oder prosoziale Verantwortung. Nur klingt das im Alltag weit weniger kompliziert. Man hilft, weil man helfen will. Man übernimmt Verantwortung, weil man sich verbunden fühlt. Man setzt sich ein, weil es einem wichtig ist. Punkt.
Doch die Realität hat manchmal andere Ideen. Sie schleicht sich in Form kleiner Bemerkungen ein: „Warst du da? Kommst du das nächste Mal? Wie oft bist du eigentlich anwesend?“ Und plötzlich fühlt man sich, als müsste man sein Privatleben in Sitzungsprotokolle verwandeln. In diesem Moment erinnert einen das Leben daran, dass Ehrenamt kein Arbeitsvertrag ist, sondern eine demokratisch gewählte Aufgabe, getragen von Gleichrangigkeit, nicht von Kontrolle. Nüchtern betrachtet ist das alles klar geregelt, da niemand Prognosen über seine Verfügbarkeit schuldet, niemand einem anderen Ehrenamtlichen weisungsgebunden ist, niemand das Recht hat, sich zur persönlichen Aufsicht einer anderen Person zu ernennen. So sprechen die Regelungen davon, dass Ehrenamtliche nur den Mitgliedern verpflichtet sind, die sie gewählt haben. Der gesunde Menschenverstand sagt dasselbe, nur einfacher, dass wir alle im selben Boot sitzen, aber niemand der Kapitän über die anderen ist.
In jeder Vorstandsarbeit gibt es zwei Ebenen, zum einen die sichtbare und zum anderen die unsichtbare. Die sichtbare besteht aus Sitzungen, Abstimmungen, Anträgen, Kalenderterminen. Die unsichtbare findet zwischen den Zeilen statt, z.B. nachts am Küchentisch, in stillen Zugfahrten und vor allem beim gedanklichen Durchspielen eines Problems oder im geübten Blick, der Missstände erkennt, bevor sie jemand ausspricht. Manchmal steckt in diesen unsichtbaren Stunden mehr Engagement als in jeder Sitzung. Doch weil man stille Arbeit nicht zählen kann, wird sie leicht übersehen. Und genau hier entsteht oft der Konflikt, der nie ausgesprochen wird. Denn Menschen neigen dazu, nur das zu bewerten, was sie sehen. Die Forschung nennt das „Verfügbarkeitsheuristik“, das Gehirn bevorzugt das Offensichtliche, auch wenn das Wesentliche anderswo passiert.
In vielen Vereinen wächst dann ein unausgesprochenes Bedürfnis nach Ordnung. Man erstellt Listen, verteilt Aufgaben, richtet Geschäftsverteilungspläne ein, alles sinnvolle Sachen, solange sie als Struktur dienen und nicht als Maßstab für persönlichen Wert. Ein Geschäftsverteilungsplan ist ein Werkzeug, kein Urteil. Ein Versuch, Rollen klarer zu fassen, nicht Menschen. Wenn er jedoch als versteckte Bewertung genutzt wird, verliert er seine Funktion und verwandelt sich in etwas, das Ehrenamt nicht verträgt, nämlich die Kontrolle.
Die schönste Ironie ist, dass gerade in Vereinen, die von Freiwilligkeit leben, manchmal Erwartungen entstehen, die unfrei machen. Dabei wäre das grundlegende Prinzip so einfach. Denn jeder Beitrag zählt, und jeder entscheidet eigenverantwortlich, wie viel er geben kann. Wer mehr tut, verdient Anerkennung, aber keine Machtposition. Wer weniger Zeit hat, verdient Respekt und keine Abwertung. Der einzige Ort, an dem Engagement bewertet werden darf, ist die Mitgliederversammlung. Nicht weil Kritik verboten ist, sondern weil Demokratie Ordnung braucht und Wahlen sind der Moment zur Rückschau, nicht die Telefonate zwischendurch.
Vielleicht ist es sogar gut, dass es solche Anrufe gibt. Sie erinnern uns daran, warum klare Grenzen wichtig sind. Sie zwingen uns, über das Wesen des Ehrenamts nachzudenken, nämlich die Freiheit im Tun, Gleichrangigkeit im Handeln und Respekt im Umgang. Und vielleicht erinnern sie uns auch daran, wie leicht man vergisst, dass der Mensch hinter dem Ehrenamt ein eigenes Leben hat, ein Leben, das sich nicht nach Sitzungsplänen richtet, sondern nach Realitäten, die oft niemand sieht und niemand sehen muss.
Der Wert des Ehrenamts liegt nicht in der Anwesenheitspflicht, sondern in der Haltung. Nicht darin, jeden Termin wahrzunehmen, sondern darin, Verantwortung anzunehmen. Nicht in der Quantität der Stunden, sondern in der Qualität des Handelns. Manchmal zeigt sich Engagement in Wortmeldungen, manchmal in Konzepten oder manchmal in stiller Vorbereitung. Und manchmal eben darin, Grenzen zu setzen, wenn Freiwilligkeit droht, zur Verpflichtung zu werden.
Vielleicht sollte man sich gelegentlich daran erinnern, warum man überhaupt ein Ehrenamt angenommen hat, nicht, um Strichlisten zu führen, nicht, um Rechte über andere zu haben, sondern um gemeinsam etwas zu gestalten. Wenn das gelingt, braucht niemand nach Anwesenheiten zu fragen. Dann sprechen Ergebnisse mehr als jede Sitzungsliste.
Und vielleicht ist das die eigentliche Einladung an alle Ehrenamtlichen, weniger Kontrolle, mehr Vertrauen, weniger Blicke auf Termine, mehr Blicke auf Haltung. Weniger Fragen danach, wer wann wo war, und mehr Fragen danach, wie wir gemeinsam weiterkommen.
In einem Verein gewinnt nicht derjenige, der am längsten im Raum sitzt, sondern derjenige, der am stärksten am gemeinsamen Ziel zieht. Und manchmal beginnt dieser Weg genau dort, wo ein unerwarteter Anruf dazu führt, dass man die Regeln des Miteinanders neu sortiert, klar, ruhig, selbstbewusst und mit dem festen Bewusstsein, dass Ehrenamt nur dann gelingt, wenn Freiheit und Verantwortung dieselbe Sprache sprechen.



