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Überall wo man auch nur hinsieht gibt es Gesichter, Meinungen und Selbstbilder, die um Aufmerksamkeit ringen, als wäre sie eine begrenzte Ressource. Man scrollt, hört zu, beobachtet und fragt sich irgendwann leise, ob das alles schon Narzissmus ist oder einfach nur der Versuch, im Lärm des Alltags nicht unterzugehen. Der Begriff selbst ist längst zu einem Schlagwort geworden, schnell gezückt, oft unscharf gebraucht, manchmal wie ein moralischer Zeigefinger. Dabei ist die Wirklichkeit sehr viel komplizierter, widersprüchlicher und menschlicher, als es dieser Vorwurf vermuten lässt.

Narzissmus wird gerne als Modekrankheit westlicher Gesellschaften beschrieben, als Nebenprodukt von Individualismus, Leistungskult und Selbstdarstellung. Doch ein genauerer Blick auf den aktuellen Stand der psychologischen Forschung zeichnet ein anderes Bild. Narzisstische Züge sind kein exklusives Exportgut einer bestimmten Kultur, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, das sich quer durch Länder, Gesellschaften und Lebenswelten zieht. Sie zeigen sich mal lauter, mal leiser, mal geschniegelt, mal versteckt hinter Bescheidenheit.

Psychologisch betrachtet geht es beim Narzissmus weniger um Eitelkeit im landläufigen Sinn, sondern um eine innere Verschiebung der Aufmerksamkeit. Wer stark narzisstisch geprägt ist, richtet den Blick bevorzugt auf sich selbst, auf die eigene Bedeutung, auf das eigene Bild in den Augen anderer. Das kann antreiben, motivieren und schützen. Es kann aber auch Beziehungen ausdünnen, Empathie verengen und den Raum für echtes Gegenübersein kleiner machen. Genau in dieser Ambivalenz liegt der Kern, denn Narzissmus ist kein Entweder-oder, sondern ein Kontinuum, auf dem sich fast jeder Mensch irgendwo wiederfindet.

Besonders deutlich wird das in der Lebensphase, in der vieles noch offen ist. Junge Erwachsene neigen weltweit stärker zu narzisstischen Mustern, nicht, weil sie schlechtere Menschen wären, sondern weil ihr Leben gerade um sie selbst kreist. Wer bin ich, was kann ich, wohin will ich, wie werde ich gesehen? Diese Fragen brauchen Platz, manchmal auch Übertreibung. Sie erzeugen Selbstbezogenheit, die nicht krankhaft, sondern entwicklungslogisch ist. Erst mit der Zeit, und oft durch Erfahrungen, die nicht planbar sind, verschiebt sich der Fokus. Verantwortung, Scheitern, Verluste und Bindungen wirken wie leise Korrekturen am eigenen Selbstbild.

Interessant ist dabei, dass diese Muster kulturübergreifend erstaunlich ähnlich sind. Auch Gesellschaften, die als gemeinschaftsorientiert gelten, kennen Selbstfokussierung, Statusdenken und das Bedürfnis, sich hervorzuheben. Sie äußern sich vielleicht subtiler, eingebetteter, sozial akzeptierter, aber sie verschwinden nicht. Offenbar ist das Bedürfnis nach Bedeutung kein kultureller Sonderfall, sondern ein psychologisches Grundmotiv. Der Unterschied liegt weniger im Ob als im Wie.

Im Alltag begegnet uns das auf unspektakuläre Weise. In Gesprächen, die sich unmerklich immer wieder um dieselbe Person drehen. In beruflichen Kontexten, in denen Anerkennung zum Treibstoff wird. In Beziehungen, in denen Nähe nur so lange funktioniert, wie sie das eigene Selbstbild stabilisiert. Und nicht zuletzt im eigenen Inneren, wenn man sich dabei ertappt, Lob stärker zu speichern als Kritik, Zustimmung intensiver zu fühlen als Widerspruch. Narzissmus ist selten nur der andere. Er sitzt oft näher, als uns lieb ist.

Die moderne Forschung beschreibt Narzissmus deshalb zunehmend differenzierter. Es geht nicht mehr nur um Extreme, sondern um feine Ausprägungen, um situative Schwankungen, um das Zusammenspiel von Persönlichkeit, Umfeld und Lebensphase. Auch soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen spielen eine Rolle. Wo Status sichtbar, der Vergleich permanent und der Erfolg messbar wird, wächst der Druck, sich selbst zu behaupten. Das kann narzisstische Züge verstärken, ohne dass sie zwangsläufig destruktiv werden müssen. Problematisch wird es dort, wo Selbstaufwertung nur noch auf Kosten anderer möglich ist.

Vielleicht liegt genau hier der eigentliche Mehrwert dieser Erkenntnisse. Nicht in der Frage, wer narzisstischer ist als wer, sondern in der Einladung zur Selbstbeobachtung. Wann dient mir mein Selbstvertrauen, und wann verschließt es mir den Blick für andere? Wo schützt mich mein Stolz, und wo isoliert er mich? Narzissmus verliert seinen Schrecken, wenn man ihn nicht moralisiert, sondern versteht. Er wird dann zu einem Signal, und nicht mehr zu einem Urteil.

Am Ende erzählt Narzissmus weniger von Egozentrik als von Verletzlichkeit. Von dem Wunsch, gesehen zu werden, ohne sich zu verlieren. Von dem Balanceakt zwischen Selbstbehauptung und Verbundenheit. Vielleicht ist das der Punkt, an dem die Diskussion leiser, aber ehrlicher wird. Nicht als Abrechnung mit einer angeblich selbstverliebten Zeit, sondern als Einladung, genauer hinzusehen in die Gesellschaft, in Beziehungen und nicht zuletzt in den eigenen Spiegel.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel