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Manchmal wirkt das Leben wie ein Hafen, dessen stille Oberfläche trügerisch beruhigt. Schutzwälle aus Routinen halten die Wellen fern, der Alltag ordnet unsere Tage, und irgendwo zwischen den immer gleichen Geräuschen des An- und Ablegens entsteht eine beinahe friedliche Gewohnheit. Doch während die Möwen kreisen und ein leiser Wind durch die Taue fährt, regt sich ein Gedanke, der sich nicht länger verdrängen lässt. Ein Schiff wurde nie gebaut, um im sicheren Hafen zu verharren. Und dennoch liegen so viele von uns dort fest vertäut, weit entfernt von den Küsten, die wir innerlich längst sehen können.

Es ist bemerkenswert, wie sich Menschen verhalten, wenn sie vor Entscheidungen stehen, die ihre Komfortgrenze übersteigen. Studien zeigen, dass das menschliche Gehirn Risiken häufig größer bewertet, als sie tatsächlich sind, und Sicherheit über Chancen stellt. Ein überlebensfähiges Muster, aber ein hemmendes, wenn es um die Gestaltung eines eigenen, lebendigen Lebens geht. Unsere inneren Häfen wie Gewohnheiten, Sicherheiten oder Pläne sind wichtig, aber sie dienen nicht als Wohnort. Sie sind Werkstätten, in denen wir uns stärken, nachrüsten, orientieren, um dann wieder hinauszufahren. Das, was wir „Mut“ nennen, ist eigentlich weniger eine heroische Geste als eine stille, wissenschaftlich gut belegte Entscheidung gegen das natürliche Bedürfnis, Risiken zu vermeiden.

Viele Menschen erkennen erst spät, dass Stillstand nicht nur Ruhe bedeutet, sondern mit der Zeit auch Schwere erzeugt. Schutz kann zu Last werden. Ganz gleich, ob jemand jahrelang einen Beruf ausübt, der einst Sicherheit bot, heute aber keine Begeisterung mehr weckt, oder ob man in Beziehungen verharrt, die sich längst erschöpft haben, denn jedes Verweilen hat einen Preis. Neurowissenschaftler sprechen davon, dass das Gehirn sich selbst nach Hoffnung sehnt. Es belohnt Expansion, Lernen und Erfahrung. Wachstum ist biologisch verankert; das Abenteuer liegt uns im Blut, selbst wenn wir es uns nicht immer eingestehen.

Oft zeigt sich der Wendepunkt in kleinen Momenten wie beim Blick auf den Kalender, der seit Monaten denselben Rhythmus wiederholt; beim Gedanken an ein Gespräch, das man immer noch nicht geführt hat; bei einer Gelegenheit, die anklopft, während man sich selbst einredet, noch nicht bereit zu sein. Menschen kennen diesen Moment, den stummen Druck in der Brust, der nicht Schmerz ist, sondern eine Art sehnsuchtsvoller Hinweis darauf, dass etwas in uns längst aufbricht. Manche erleben es beim Studium, das sie doch nicht erfüllt, andere bei der Geschäftsidee, die sie tief in sich tragen, aber aus Angst vor dem Scheitern verschieben. Wieder andere spüren es, wenn sie merken, dass sie im eigenen Leben längst Zuschauer statt Gestalter geworden sind.

Interessant ist, wie sehr wir unterschätzen, was wir ertragen und gestalten könnten, wenn wir die Leinen wirklich lösen. Viele, die ein Risiko gewagt haben, berichten im Rückblick weniger von Angst als von einem seltsamen Gefühl der Entlastung, so als hätten sie sich im Moment des Losfahrens endlich wieder mit dem verbunden, was sie ursprünglich ausmacht. Die Forschung spricht in diesen Fällen von „Selbstwirksamkeit“, dem Wissen, dass man Herausforderungen nicht nur begegnen, sondern ihnen gewachsen sein kann. Dieses Gefühl entsteht nicht im Hafen, sondern erst auf offener See.

Der Hafen bleibt wichtig. Er ist kein Feind. Er ist unser Rückzugsort, unser Reparaturplatz, unser Ort zum Durchatmen. Doch er darf uns nicht daran hindern, weiterzuziehen. Menschen brauchen Phasen der Stabilität und Phasen der Bewegung. Es ist ein Wechselspiel, das in vielen psychologischen Theorien als zentraler Motor persönlicher Entwicklung gilt. Sicherheit ohne Aufbruch wird mit der Zeit eng, wie ein Raum, der früher warm wirkte, dann aber die Luft verliert. Bewegung ohne Anker hingegen wäre ziellos. Die Kunst liegt darin, beide Zustände zu leben, nicht nur einen.

Vielleicht trägt jede Entscheidung, die uns hinausführt, ein winziges Beben in sich, ein Beben, das wir zu oft mit Gefahr verwechseln, obwohl es in Wahrheit der Anfang von Lebendigkeit ist. Wer aufbricht, riskiert, gewiss. Aber wer bleibt, riskiert ebenfalls, nämlich die eigene Geschichte zu verpassen. Und es ist eine der seltenen Konstanten menschlicher Biografie, dass die bedeutendsten Erkenntnisse nicht auf den geschützten Stegen, sondern draußen entstehen, dort, wo Wind und Wellen uns fordern, aber auch formen.

Am Ende geht es nicht darum, möglichst weit hinauszufahren oder besonders große Wellen zu schlagen. Es geht darum, den Moment zu erkennen, in dem die innere Stimme leise sagt, dass das Wasser draußen ruft  und sich zu erlauben, darauf zu antworten. Das Vertrauen zu entwickeln, dass ein Schiff, das seit Jahren repariert, poliert, geprüft wurde, nun endlich weiß, wohin es will. Und dass der Hafen immer bleibt, wohin wir zurückkehren können, wenn wir Ruhe brauchen.

Vielleicht ist es genau das, was die Menschen so sehr bewegt, und zwar die Erkenntnis, dass wir zugleich zart und stark sind. Dass wir Schutz brauchen, aber auch Freiheit suchen. Dass das Leben aus Ankern und aus Aufbrüchen besteht. Und dass wir, wie jedes Schiff, erst dann zu uns selbst werden, wenn wir uns trauen, die Leinen zu lösen.

Der Hafen mag uns halten, doch nur die Fahrt schenkt uns den Horizont.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel