Werbung
Werbung

Bettina stand mitten in ihrem Wohnzimmer, und plötzlich wirkte alles wie eine vergessene Kulisse. Auf dem Sideboard ein veralteter Fernseher, daneben eine Kiste mit Plastikfiguren, die schon lange niemand mehr in die Hand genommen hatte. In den Ecken lag ein feiner Staubfilm, als hätten die Gegenstände selbst beschlossen, nicht mehr Teil des Lebens zu sein, das sich hier eigentlich abspielen sollte. Es war kein bewusstes Festhalten gewesen, eher ein langsames Einschlafen des Raumes, während Bettinas Alltag sich weitergedreht hatte. Sie bemerkte, wie ihr Herz für einen Moment schwer wurde, als ob dieser Raum etwas von ihr wüsste, das sie selbst bisher übersehen hatte.

Es ist faszinierend, wie wir Räume oft beiläufig betreten und doch unbemerkt von ihnen geformt werden. Die Architekturpsychologie spricht längst davon, dass Räume weit mehr sind als vier Wände und ein Dach. Sie spiegeln, was in uns vorgeht, manchmal sind sie stille Chronisten, manchmal sogar kleine Heiler. Studien zeigen, dass Menschen in Umgebungen, die ihren aktuellen Bedürfnissen entsprechen, weniger Stress empfinden, kreativer werden und sich sogar körperlich wohler fühlen. Nicht umsonst fließen Erkenntnisse über Licht, Farben, Ordnung und persönliche Gegenstände inzwischen in moderne Kliniken, Arbeitsplätze und Wohnungen ein. Wer die eigene Umgebung bewusst gestaltet, beeinflusst damit auch seine innere Landschaft – das ist kein romantischer Gedanke, sondern durch zahlreiche Beobachtungen belegt.

Bettina begann, ohne es genau zu planen, sich einen Notizblock zu nehmen. Sie schrieb Sätze auf, die ihr durch den Kopf gingen, fast wie in einem Dialog mit den Möbeln um sie herum. Es war erstaunlich, wie viel klarer sie plötzlich sah, dass ihr Leben längst in eine neue Phase gewechselt war. Ihr Sohn, der nun lieber mit Freunden unterwegs war, brauchte keine Lego-Ecke mehr im Wohnzimmer. Sie selbst sehnte sich nach einem Ort, der nicht nur Erinnerungen aufbewahrte, sondern ihre jetzigen Träume spiegelte. Es war, als würde der Raum flüstern: „Lass mich los, ich halte dich fest.“

Die Wissenschaft betont, dass wir uns Räume so schaffen sollten, dass sie unsere Entwicklung begleiten statt bremsen. Ein chaotisches Arbeitszimmer, in dem sich Papierberge stapeln, kann das Gefühl verstärken, innerlich überfordert zu sein. Eine Küche voller ungenutzter Geräte erzählt manchmal die Geschichte von Plänen, die nie umgesetzt wurden. Und das Wohnzimmer mit den alten Spielsachen? Es hält die Zeit an, auch wenn unser Inneres längst weitergezogen ist. Wer beginnt, diese Sprache zu verstehen, findet nicht nur heraus, was los ist, sondern kann aktiv etwas verändern.

Bettina kaufte eine neue Couch, nicht luxuriös, aber weich, einladend und in einem warmen Grün. Die Kisten mit den Spielsachen wanderten auf den Dachboden, sorgfältig verstaut, nicht weggeworfen, sondern befreit von der Pflicht, sichtbar zu sein. Und mit jedem Handgriff merkte sie, wie sich auch in ihr etwas verschob. Sie erlaubte sich, eine Frau zu sein, die mehr ist als Mutter. Sie begann, sich auf dem neuen Sofa mit einem Buch zurückzulehnen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil sie nicht gleichzeitig bastelte, putzte oder plante.

Forschende berichten immer wieder von diesem erstaunlichen Wechselspiel: Wer seine Umgebung verändert, verändert sich selbst. Räume können Stress reduzieren, indem sie klare Strukturen bieten, sie können Geborgenheit schenken durch warme Farben und natürliche Materialien. Sie können inspirieren, wenn sie Licht einfangen und uns Weite spüren lassen. Und sie können bremsen, wenn sie zugestellt, dunkel oder fremd wirken.

Manchmal reicht es schon, eine Wand neu zu streichen, ein Regal umzuräumen, das alte Schränkchen endlich zu entsorgen. Es sind kleine Handlungen, aber sie können sich anfühlen wie ein inneres Aufräumen, wie ein tiefer Atemzug nach langer Enge. Wer das einmal erlebt hat, wird Räume anders betrachten: nicht mehr nur als Kulisse, sondern als Partner, der mit uns wächst, der uns trägt, heilt und erinnert, wer wir sind – und wer wir werden wollen.

Und so sitzt Bettina an einem Abend auf ihrer neuen Couch, schaut in ihr verändertes Wohnzimmer und lächelt still. Der Raum schweigt. Aber in diesem Schweigen liegt eine leise, kraftvolle Botschaft: Du darfst neu beginnen. Immer wieder.

Von Esra Toca

wo Lyrik auf Realität trifft