Werbung
Werbung


Manchmal scheint es, als ob Geschichten in Bücher hineingesperrt wären wie Vögel in einen Käfig. Man liest, man blättert, man legt das Buch beiseite. Das Erlebnis ist intensiv, aber in seiner Struktur abgeschlossen. Doch dann gibt es diese andere Form von Erzählen, die sich weigert, still zu stehen. Geschichten, die nicht nur erzählt, sondern erlebt werden wollen. Sie springen vom Papier ins Digitale, lassen den Leser zum Spieler werden und verwandeln sich in interaktive Abenteuer. Es ist, als würde ein Roman plötzlich eine Tür öffnen und den Leser einladen, einzutreten, mitzumischen, den Verlauf zu beeinflussen.

Die Forschung zum Thema Interaktivität hat in den letzten Jahren viel klargemacht. Menschen erinnern sich stärker an Inhalte, wenn sie selbst Teil davon sind. Spiele, die Geschichten fragmentieren und in Entscheidungsknoten zerschneiden, bringen genau das hervor. Das klassische lineare Erzählen wird aufgelöst, in Bausteine zerlegt, die sich neu zusammensetzen lassen. Dabei entsteht ein Geflecht aus Möglichkeiten, in dem der Spieler zum Mitgestalter wird. Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang gern von Agency, also dem Gefühl, selbst wirksam zu sein. In der Psychologie weiß man längst, dass dieses Gefühl uns motiviert, neugierig hält und Bindung schafft. Es ist derselbe Nervenkitzel, der uns im Alltag treibt, wenn wir vor einem offenen Weg stehen und entscheiden müssen, ob wir links oder rechts abbiegen, nur dass im Spiel niemand hupt, wenn wir zu lange überlegen.

Die Praxis ist allerdings alles andere als leicht. Autoren und Autorinnen, die gewohnt sind, in klaren Spannungsbögen zu denken, müssen lernen, ihre Welt zu zerlegen, ohne dass sie auseinanderfällt. Figuren brauchen nicht nur Charakter, sondern auch Flexibilität, denn sie reagieren auf Spielerhandlungen, die niemand vorab genau kalkulieren kann. Game-Designer wiederum müssen lernen, Worte wie empfindliche Rohstoffe zu behandeln, statt sie in starre Mechaniken zu pressen. Beide Seiten treffen sich irgendwo in der Mitte, und dort beginnt die eigentliche Magie, bei der eine Geschichte, die zwar aus derselben Quelle stammt, sich aber mit jedem Klick verwandelt.

Wer einmal ein interaktives Spiel erlebt hat, das wirklich funktioniert, der weiß, wie nah es an unser eigenes Leben rückt. Wir haben selten ein vorgefertigtes Drehbuch, sondern Möglichkeiten, Abzweigungen, Überraschungen. Wir probieren, scheitern, versuchen neu. Genau das, was man in der Forschung den „Game Loop“ nennt, eine wiederholte Handlung, die sich verändert und uns wachsen lässt. Interessanterweise spiegelt das, was Spielewelten tun, die Art, wie wir uns durchs Leben bewegen bei Entscheidungen, die wir treffen und Konsequenzen, die wir tragen, bis wir etwas Neues daraus formen.

Die Herausforderung liegt darin, dass ein solches Werk nicht einfach ein Roman mit eingebauten Wahlmöglichkeiten ist. Es ist ein neues Medium, eine Übersetzung von Gedanken in Handlungen. Wie bei jeder Übersetzung geht etwas verloren, aber zugleich entsteht etwas Eigenes. Man könnte sagen, Bücher flüstern, Spiele sprechen laut mit uns. Und manchmal antworten wir.

Es lohnt sich also, den Blick auf diese Entwicklung nicht nur als Technikspielerei zu richten, sondern als Spiegel unserer Zeit. Das interaktive Erzählen kommt unserem Lebensgefühl letztlich erstaunlich nah. Es gibt uns das, was wir im Alltag oft vermissen. Die Chance, Szenarien zu testen, Fehler folgenlos zu begehen sowie alternative Wege auszuprobieren. Und genau deshalb fühlt es sich so intensiv an.

Vielleicht wird das Buch nie verschwinden, und vielleicht ist das auch gut so. Aber die Vorstellung, dass Geschichten nicht nur gelesen, sondern auch gelebt werden können, verändert unser Verständnis von Erzählung grundlegend. Zwischen den Zeilen und den Klicks liegt eine neue Form der Nähe, die uns nicht nur unterhält, sondern auch lehrt, dass jede Entscheidung, so klein sie auch wirkt, einen wichtigen Baustein in Bewegung setzt.

Von Esra Toca

wo Lyrik auf Realität trifft