Die Frage, ob das Ignorieren der Diskrepanz zwischen dem, wie wir gesehen werden möchten und wie wir tatsächlich gesehen werden, absichtlich geschieht, führt uns in die Tiefen der menschlichen Psyche. Oft ist dieser Prozess kein bewusster Akt der Verleugnung, sondern ein subtiler und unbewusster Verteidigungsmechanismus. Die Selbstdarstellung, die wir wählen, ist eng mit unserem Selbstwertgefühl verknüpft. Wird sie bedroht, kann unser psychisches Gleichgewicht ins Wanken geraten.

Es gibt Menschen, die eine starke Diskrepanz zwischen ihrem Selbstbild und der Fremdwahrnehmung tatsächlich „wegdenken“. Sie nutzen unbewusst psychologische Strategien wie selektive Wahrnehmung, bei der sie nur die Informationen aufnehmen und verarbeiten, die ihr Selbstbild bestätigen. Kognitive Dissonanz kann dazu führen, dass widersprüchliche Hinweise minimiert oder umgedeutet werden, um das eigene Idealbild zu schützen.

Der innere Prozess, der hierbei abläuft, ist oft eine Form der Selbsttäuschung. Sie entsteht aus der Notwendigkeit, das eigene Selbstkonzept zu bewahren, und basiert auf der menschlichen Tendenz, die eigene Wahrnehmung so anzupassen, dass sie mit dem gewünschten Selbstkonzept übereinstimmt. Diese Selbsttäuschung kann durch eine Vielzahl von Faktoren, wie frühe Erfahrungen, Erwartungen der Gesellschaft und den Wunsch nach sozialer Anerkennung, verstärkt werden.

Um solche Menschen zur Einsicht zu bringen, ist ein sensibler und behutsamer Ansatz nötig. Es kann hilfreich sein, ein Umfeld zu schaffen, in dem offenes und ehrliches Feedback gefördert wird. Psychotherapie oder Coaching können dabei unterstützen, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung zu integrieren, indem sie Bewusstsein schaffen und Selbstreflexion fördern. Eine Schlüsselrolle spielt hierbei die Empathie: Das Verstehen der Gründe für die Diskrepanz kann helfen, den Weg zur Selbstakzeptanz und damit zur Authentizität zu ebnen.

Langzeitfolgen einer ignorierten Diskrepanz können vielschichtig sein. In einigen Fällen führt eine anhaltende Selbsttäuschung zu sozialer Isolation, da Beziehungen unter der Last einer unauthentischen Selbstpräsentation leiden können. Im beruflichen Kontext kann eine solche Diskrepanz zu Misstrauen und Konflikten führen, wenn Kollegen oder Vorgesetzte eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wahrnehmen. Auf persönlicher Ebene kann die ständige Vermeidung der Realität zu Angst und Depression führen, da die Person spürt, dass ihr Selbstbild nicht nachhaltig aufrechterhalten werden kann.

Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung dynamische Konstrukte sind. Sie sind wandelbar und können sich mit der Zeit und durch bewusste Anstrengung verändern. Einsicht, Wachstum und Veränderung sind möglich, wenn Individuen bereit sind, sich selbst und ihre Wahrnehmungen in Frage zu stellen.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner