Ist es dir auch schon passiert? Du bist an einem Ort, sei es in einem Café, in einem Betrieb, auf der Straße oder anderswo, und plötzlich spricht dich jemand an: „Hey, wir kennen uns doch! Damals…“ Das „Damals“ kann derjenige dann auch noch erstaunlich genau datieren – es war 1998, oder vielleicht das Jahr 2000, also mindestens 15 bis 20 Jahre zurück. Der Fremde erzählt dir, dass ihr gemeinsam zur Schule gegangen seid oder vielleicht zusammengearbeitet habt, und er beschreibt Ereignisse, bei denen ihr beide beteiligt wart. Während du verzweifelt in deinem Gedächtnis kramst, kommt da nichts – keine Erinnerung an diesen Menschen, der sich scheinbar so gut an dich erinnert.
Doch wie kann das sein? Warum erinnert sich dieser Mensch so lebhaft an dich, während du in deinem Gedächtnis nur auf Leere stößt? Diese Situation wirkt auf uns oft verwirrend und hinterlässt ein Gefühl von Unbehagen. Schließlich will niemand unhöflich wirken, indem er nicht zurückgrüßt oder gar zugibt, den anderen nicht zu erkennen.
Aber was wäre, wenn du selbst einmal in der umgekehrten Rolle bist? Du siehst jemanden auf der Straße, vielleicht im Café, und du erinnerst dich genau: Ihr wart zusammen in der Schule, ihr habt gemeinsam Projekte gemacht, vielleicht sogar besondere Momente geteilt. Du gehst auf die Person zu, grüßt sie freundlich, aber statt eines Lächelns und eines anerkennenden Blicks bekommst du nur eine verwirrte Miene zurück. Die Person schaut dich an, vielleicht mit einem unsicheren Grinsen, das versucht, die Unwissenheit zu überdecken – sie kann sich einfach nicht an dich erinnern.
In solchen Momenten kann man sich selbst ertappt fühlen. Da hat man diesen Menschen als so wichtig in seinem Gedächtnis abgespeichert, und plötzlich wird einem bewusst, dass es umgekehrt vielleicht gar nicht so war. Für viele kann das ein leichtes Gefühl von Kränkung auslösen, vor allem, wenn man dachte, dass diese Verbindung für beide Seiten von Bedeutung war. Doch oft endet so ein Moment in einem Lächeln, einem Schulterzucken oder einem humorvollen Kommentar, der die Situation auflöst. Denn, wenn man ehrlich ist, kann diese Konfrontation auch amüsant sein – sie zeigt uns, wie subjektiv und selektiv unsere Erinnerungen tatsächlich sind.
Was steckt eigentlich dahinter, wenn sich der eine so gut erinnert und der andere nicht? Dieses Phänomen, dass sich jemand an uns erinnert, während wir ihn völlig vergessen haben, ist tief in der Art und Weise verankert, wie unser Gehirn Erinnerungen speichert. Erinnerungen sind keine exakten Kopien der Realität, sondern eher wie Gemälde, die wir mit jedem Abrufen neu malen. Dabei fließen Emotionen, der Kontext und persönliche Relevanz in das Bild ein. Für den einen warst du vielleicht eine bedeutende Person – ein Klassenkamerad, der ihm durch eine schwere Zeit geholfen hat, ein Kollege, mit dem er lustige Pausen verbracht hat, oder einfach jemand, der in seiner persönlichen Geschichte einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Dein Gesicht, dein Name oder eine bestimmte Situation sind in seinem Gedächtnis fest verankert, weil sie für ihn in jenem Moment wichtig waren.
Doch für dich war dieser Moment vielleicht nur eine von vielen Begegnungen. Unser Gehirn ist darauf programmiert, unwichtige Informationen auszublenden, um Platz für Neues zu schaffen. Wir vergessen Details, die für unser Leben nicht relevant sind. Vielleicht hast du damals jeden Tag mit vielen Menschen gesprochen und keiner von ihnen hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Für dich waren es flüchtige Begegnungen, für jene vielleicht prägende Erlebnisse.
Oft erinnern wir uns eher an Personen und Ereignisse, die mit starken Emotionen verbunden sind. Diese Emotionen können positiv oder negativ sein, aber sie brennen sich in unser Gedächtnis ein. Vielleicht warst du für den anderen in einer schwierigen oder besonders glücklichen Zeit ein Anker – etwas, das sich in seinem Gedächtnis festgesetzt hat. Dein Gedächtnis hat diesen Anker jedoch losgelassen, weil diese Begegnung für dich keine so starke emotionale Bedeutung hatte.
Manchmal spielt auch unser soziales Umfeld eine Rolle. Wenn man jahrelang den Kontakt zu einer Person verliert, verschwindet sie allmählich aus unserem bewussten Gedächtnis, selbst wenn sie einmal eine wichtige Rolle in unserem Leben gespielt hat. Wenn man sich dann nach vielen Jahren wiedersieht, kann es sein, dass man sich erst durch bestimmte Hinweise wieder erinnert. Vielleicht ein Lächeln, eine bestimmte Geste oder ein Satz, der Erinnerungen an früher wachruft.
Und manchmal? Manchmal erinnert sich unser Gehirn einfach nicht. Das passiert uns allen, und es ist ein ganz normaler Teil des menschlichen Daseins. Unser Gedächtnis ist nicht perfekt, es ist subjektiv und selektiv. Was für den einen unvergesslich ist, kann für den anderen einfach in der Menge untergegangen sein.
Das Ganze kann ein Anlass sein, über die Bedeutung von Erinnerungen nachzudenken und darüber, wie sie unser Selbstbild und unsere Wahrnehmung formen. Unser Leben ist gefüllt mit Informationen, Kontakten und Eindrücken, und unser Gehirn muss entscheiden, was es behält und was es aussortiert. Nicht jede Begegnung kann daher in die „ewige“ Sammlung unseres Gedächtnisses aufgenommen werden, und so gehen manche Erinnerungen schlichtweg verloren. Das Gehirn filtert Informationen, um uns das zu behalten, was für uns am wichtigsten erscheint. Doch diese Filter sind nicht für jeden gleich – was für den einen unvergesslich ist, mag für den anderen nur eine flüchtige Begegnung sein.
Also, wenn du das nächste Mal von einem „alten Bekannten“ auf der Straße angesprochen wirst und dich nicht erinnern kannst, sei nicht zu streng mit dir selbst. Vielleicht warst du für ihn ein prägendes Kapitel, während er für dich nur eine Randnotiz war. Das ist völlig in Ordnung – und ein weiteres Beispiel dafür, wie faszinierend und geheimnisvoll unser Gedächtnis ist. Und wer weiß, vielleicht hinterlässt du auch heute einen bleibenden Eindruck bei jemandem, an den du dich in 20 Jahren nicht mehr erinnern wirst.
4/2024