Es war einmal ein Mann, der sich einer kleinen Gruppe von Zuhörern stellte, die ihn fragten: „Sag, wie schützt du dich vor deinen Feinden?“ Seine Antwort war einfach, doch sie hallte lange nach: „Ich habe keine Feinde, denn ich habe niemandem etwas Gutes getan.“
Als Kind hat mich dieser Satz fasziniert und verwirrt zugleich. Warum sollte jemand Feinde haben, nur weil er Gutes tut? Ich stellte mir vor, dass dieser Mann meinte, Gutes zu tun sei gefährlich, dass es uns anfällig macht, angreifbar sogar. Damals dachte ich, dass jemand, der stets hilfsbereit und selbstlos ist, irgendwann von all jenen beneidet und vielleicht sogar gehasst wird, denen er etwas Gutes getan hat. Doch Jahre später scheint mir eine tiefere Wahrheit dahinterzustecken.
Der Mann sah seine Taten vielleicht nicht als etwas Besonderes an, er hielt sie für selbstverständlich. Für ihn war eine gute Tat keine Schuld, die er anderen auflastete, sondern ein natürlicher Akt. Und das könnte der Schlüssel sein: Jemandem aus einer inneren Überzeugung, ohne Erwartung, zu helfen, lässt keine „offene Rechnung“ zurück. Er tat Dinge, ohne dass andere sich verpflichtet fühlten, etwas zurückzugeben oder dankbar zu sein.
Stell dir vor, du hilfst einem Freund beim Umzug. Du schwitzt, schleppst Kisten und Möbel, und am Ende des Tages erwartest du ein „Danke“ oder zumindest ein Getränk zur Belohnung. Aber was, wenn du es einfach getan hast, ohne auch nur im Hinterkopf diese Erwartung zu hegen? Dann entsteht kein Gefühl, etwas schuldig zu sein, und für den Freund bleibt die Freundschaft unbelastet. Dieser Mann hatte es vielleicht genau so verstanden – er tat Gutes, doch sah es nicht als Gut, sondern als Selbstverständlichkeit.
Wissenschaftlich belegt ist, dass Menschen, die altruistisch handeln, ohne die Erwartung einer Gegenleistung, tendenziell glücklicher sind. Forschungen zeigen, dass wir weniger Stress erleben, wenn wir nicht ständig abwägen, was wir im Gegenzug für unsere guten Taten bekommen. Der Schlüssel zur Zufriedenheit könnte also darin liegen, dass wir für andere da sind, ohne eine Gegenleistung zu erhoffen oder uns als etwas Besseres zu fühlen. So bleibt unsere Seele unberührt von dieser ständigen Buchhaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Vielleicht verstehst du es ja sogar aus eigener Erfahrung. Es sind oft die kleinen Dinge, die viel ausmachen: jemanden in der Warteschlange vorlassen, ohne Dankbarkeit zu erwarten, oder dem Kollegen helfen, ohne es beim Chef zu erwähnen. Und wenn es niemanden gibt, der uns dann „etwas schuldig“ ist, gibt es auch weniger Raum für Missgunst oder Spannungen.
So betrachtet, gewinnt der Mann aus der Geschichte eine neue, besondere Weisheit: Indem er sich von der Last des „Gutestuns“ befreit und keine Erwartungen an seine Taten knüpft, bleibt er in Frieden. Er tut das Richtige, ohne etwas zurückzuwollen, und sein Umfeld empfindet diese Freiheit. Kein Wunder, dass er keine Feinde hat.
„Wahre Güte hinterlässt keine Schuld – sie ist eine stille Tat, die sich selbst genügt.“ (K. / S. Cakir)