Es ist wie ein leiser Zaubersatz, dieser eine Satz: „Morgen mache ich das, auf jeden Fall.“ Fast wie ein Versprechen, das man sich selbst in die Handfläche schreibt – nur um es später im Alltag wieder zu verwischen. Und so beginnt ein Tag mit Hoffnung, endet in Rechtfertigung und gebiert erneut ein „Morgen starte ich…“.

Doch was steckt hinter diesem Ritual der ewigen Ankündigung, dem zarten Spiel mit der Zukunft, diesem Tango zwischen Aufbruch und Aufschub?

Man begegnet ihnen überall – in Cafés, auf Balkonen, in WhatsApp-Nachrichten um zwei Uhr nachts. Menschen, die voller Inbrunst verkünden, dass jetzt der Moment gekommen ist. Jetzt! Nur noch eine Kleinigkeit – ein Anruf, ein Termin, eine Stimmung, ein Magengrummeln –, und dann… geht’s wirklich los. Dann wird das Projekt begonnen, das Geld überwiesen, der Neuanfang gemacht. Und doch bleibt es beim Versprechen. Immer wieder. Tag für Tag. Woche für Woche. Jahr für Jahr.

Warum also? Warum sagen Menschen so etwas – nicht einmal, sondern immer wieder? Und warum klingt es jedes Mal so glaubhaft, so überzeugt, so echt?

Weil es das ist. Echt. Zumindest im Moment des Aussprechens.

Das Gehirn liebt es, sich in Bildern zu verlieren. Wenn wir sagen „Morgen fange ich an“, passiert etwas Bemerkenswertes: Unser Körper erlebt einen Hauch von Erfolg, als wäre es schon geschehen. Die bloße Vorstellung aktiviert ähnliche neuronale Netzwerke wie die tatsächliche Handlung. Ein bisschen Dopamin wird freigesetzt – die Vorfreude auf das Besserwerden, das Loslegen, das Endlich-etwas-Verändern. Und das fühlt sich gut an. So gut, dass es fast schon völlig reicht. Nur eben fast.

Doch kaum verfliegt dieses Gefühl, holt uns der Alltag ein wie ein Busfahrer, der an der Haltestelle doch noch Gas gibt. Die Wirklichkeit ist unbequem. Sie verlangt Handlung, nicht Worte. Und wer handeln will, muss etwas opfern: Bequemlichkeit, Angstfreiheit, Kontrolle. Nicht jeder ist dazu bereit. Also wird verschoben – auf morgen. Oder übermorgen. Oder nächste Woche, wenn das Wetter passt. Oder wenn der Druck groß genug ist.

Hinzu kommt ein anderer Aspekt – der soziale Spiegel. Viele dieser Ankündigungen sind nicht nur Versprechen an sich selbst, sondern auch an andere. Sie dienen als Schutzschild gegen Kritik. Wer sagt „Morgen schicke ich dir das Geld“ oder „Ich bin jetzt wirklich soweit“, bringt sich in eine Position der Nähe, der Verbindlichkeit. Auch wenn er sie nicht einlöst. Es ist eine Strategie der Nähe ohne Risiko – Nähe durch Ankündigung statt durch Tat.

Vielleicht glauben diese Menschen wirklich daran. Vielleicht glauben sie aber auch nur, dass du es glauben sollst. Dass dein Glaube ihnen Zeit verschafft. Oder Verständnis. Oder einfach das wohlige Gefühl, dass sie noch auf dem richtigen Weg sind – selbst wenn sie nie losgegangen sind.

Es ist wie bei dem einen Freund, der seit zwei Jahren erzählt, dass er seine Masterarbeit „morgen anfängt“. Oder der Kollege, der „ganz sicher bald kündigt und was Eigenes startet“. Oder der Cousin, der versichert, dass er „nächste Woche endlich mit Sport beginnt“. Sie alle eint etwas: der feste Wille in der Vorstellung – und die flüchtige Energie in der Wirklichkeit.

Aber was, wenn das nicht nur Schwäche ist? Was, wenn es eine Form des Selbstschutzes ist? Eine leise Art, mit der eigenen Angst umzugehen – der Angst zu scheitern, nicht gut genug zu sein, ausgelacht zu werden? Denn wer nicht anfängt, kann auch nicht verlieren. Und wer morgen verspricht, bleibt heute unversehrt.

Dabei wäre es so befreiend, einmal nichts zu versprechen. Einfach zu schweigen. Oder zu flüstern: Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wann ich es tue. Ich weiß nur, dass ich will. Und vielleicht reicht das für heute.

Denn nicht das Versprechen macht uns besser. Sondern der erste Schritt. Auch wenn er klein ist. Auch wenn er leise ist. Auch wenn ihn niemand sieht.

Vielleicht liegt genau dort der Anfang. Nicht morgen. Sondern in einem Augenblick, der keine Worte braucht. Nur Mut.
Und manchmal ist das der größte Schritt von allen.

Nun fragt man sich: Was geht in diesen Menschen wirklich vor? Wie kann jemand über Jahre hinweg mit Überzeugung das Gleiche behaupten, obwohl er selbst erlebt, dass es nicht geschieht?

In der Psychoanalyse spricht man hier von Abwehrmechanismen, die das Ich schützen sollen – vor Überforderung, vor Scham, vor Versagensängsten. Das Versprechen auf morgen ist ein typischer Fall von Verdrängung gepaart mit rationalisierender Verschiebung: Die unerledigte Handlung wird nicht als Scheitern erlebt, sondern als temporäre Verzögerung. Das schützt die Selbstachtung, ohne das Idealbild des „handelnden Selbst“ aufgeben zu müssen.

In diesem Verhalten steckt oftmals ein innerer Konflikt. Ein Teil des Ichs strebt nach Entwicklung, Selbstwirksamkeit und Veränderung. Der andere Teil – möglicherweise geprägt durch frühkindliche Erfahrungen, Autoritätsbilder oder tiefliegende Ängste – zieht sich zurück, fürchtet Konsequenzen oder Verlust. Die Ankündigung, „morgen“ zu beginnen, bringt diesen Konflikt scheinbar zur Ruhe. Der aktive Anteil wird befriedet, der ängstliche Anteil bekommt Aufschub.

Es handelt sich also um eine Form des Performanzverhaltens – eine Art sozialer Selbstinszenierung. Man inszeniert sich als aktiver Mensch, obwohl man objektiv passiv bleibt. Das erzeugt soziale Akzeptanz, Verständnis – und gleichzeitig Raum für erneutes Aufschieben.

Dabei fällt auf: Solche Ankündigungen werden oft in Momenten geäußert, in denen das reale Handeln schwerfällt – nachts, unter Stress, nach Rückschlägen. Der Mensch sucht nach Kontrolle über eine unkontrollierbar gewordene Situation. Das Morgen gibt ihm diese Kontrolle zurück, denn das Morgen ist noch unbeschrieben. Und damit gestaltbar. Zumindest in der Fantasie.

Diese Fantasie ist keine Lüge, sondern ein psychodynamisches Bedürfnis nach Identitätserhalt. Der Mensch möchte nicht glauben, dass er versagt. Er möchte glauben, dass er noch kann – nur eben nicht heute. Das Gehirn hilft ihm dabei. Studien aus der Motivationspsychologie zeigen, dass allein die Vorstellung einer Handlung bereits ähnliche neuronale Prozesse aktiviert wie die Handlung selbst. Die Ankündigung wirkt wie ein Placebo: nicht heilend, aber kurzfristig lindernd.

Doch langfristig ist der Preis hoch. Mit jeder verschobenen Tat wächst die innere Diskrepanz zwischen Selbstbild und Realität – zwischen dem, der man sein möchte, und dem, der man faktisch ist. Dieses Auseinanderklaffen erzeugt kognitive Dissonanz – ein unangenehmer Zustand, den man wiederum durch neue Ankündigungen zu übertünchen versucht. Es entsteht ein Teufelskreis der ewigen Vertröstung.

Aus der Verhaltenstherapie ist bekannt: Je häufiger Verhalten durch Gedanken ersetzt wird, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass es chronisch unterdrückt wird. Menschen, die immer wieder von ihren Zielen sprechen, ohne zu handeln, verankern in ihrem System ein Muster der Selbstentlastung durch Symbolhandlung. Worte ersetzen Taten. Das ist bequem – und gleichzeitig gefährlich.

Man könnte fast sagen: Das Morgen wird zum Fluchtpunkt. Ein sicherer Ort, den man nie erreichen muss – gerade deshalb, weil er so sicher ist. Wer dort verweilt, muss sich nicht den Ängsten des Heute stellen. Muss keine Ablehnung riskieren, keine Bewertung, keinen Misserfolg. Und manchmal ist es genau das, was diese Menschen antreibt: nicht etwa Hoffnung – sondern Furcht.

Furcht davor, dass das Bild, das sie von sich selbst haben, nicht standhält. Dass das Leben ohne Ausrede leer wäre. Dass man handeln müsste – ohne Garantie, dass es besser wird.

In einem solchen Zustand kann selbst die Lüge zur Lebensstrategie werden. Keine große, böse Lüge – sondern die stille, kleine Alltagslüge: Ich schaffe das. Nur noch nicht heute. Eine Lüge, die viele glauben. Auch, weil sie glauben wollen.

Und vielleicht liegt genau dort das Tragische – und das Menschliche.

Denn der Mensch ist nicht immer das, was er tut. Oft ist er das, was er zu tun hofft. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit lebt ein ganzer Kosmos aus Absicht, Angst und Ausflucht. Wer das versteht, verurteilt weniger. Und beginnt womöglich, im eigenen Leben ein wenig ehrlicher mit dem Heute zu sein – anstatt sich immer wieder auf das Morgen zu vertrösten.

Denn das Morgen hat noch niemand gesehen.
Aber das Heute… wartet schon viel zu lange.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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