Es gab einmal einen Mann, der strebte sein gesamtes Leben lang nach reinem Glück. Er war unzufrieden mit sich selbst. Er mochte die Fehler nicht, die er tat, manch Unwahrheiten, die er erzählte oder den Hass, Ekel und die Eifersucht, die er zeitweilig verspürte.

Der Mann wollte Gottes Himmel gänzlich würdig sein, frei von niederträchtigen Unannehmlichkeiten, ja Charakterschwächen, so wie er sie sah. Er las hunderte, wenn nicht tausende Bücher, über die Reinigung seiner Seele; und versuche nur jemand ihm einzureden, seine Unvollkommenheit sei nur menschlich, nein, dann sehnte sich dieser Mann nach Übermenschlichkeit.

An manchen Tagen zahlten sich seine Bemühungen aus, er war zufrieden mit der erbrachten Leistung für sein höheres Selbst, sogleich aber wünschte sich der Alte, Abstand und Ruhe. Abstand und Ruhe im kleinen, aber noch sichtbaren, dunklen Teil seiner Person. Das zu realisieren, verfrachtete ihn in einen Zustand großer, überwältigender Enttäuschung, sodass der gütige, alte Herr manchmal tagelang an körperlichen Schmerzen litt. Sein Ziel war greifbar nah und doch so fern. An solchen Tagen breitete sich unermüdliche Hoffnungslosigkeit in seinem Herzen aus, sodass er sich, mehr als je zuvor, wünschte, frei von dieser qualvollen Seite zu sein. Reines Glück, so klang der jahrzehntealte Wunsch des Greisen.

Irgendwann, nach einer wiederkehrenden Phase bloßen Schmerzens, hatte der Mann einen bizarren Traum. In dieser Nacht wurde er von einer Gestalt, umhüllt von einer solchen Dunkelheit, die jedes Licht restlos zu absorbieren schien, aufgesucht. Instinktiv fassten den Armen Unsicherheit und Angst. Zitternd erhob dieser die Stimme und sprach: „Wie-wie kann ich Ihnen helfen, gnädiger Herr.“ „Mir teilt man kein Geschlecht zu“, donnerte die gewaltige Stimme des monströsen Wesens, keiner Stimmlage zuordenbar.

„Tu-tut mir leid, ich“, dem Alten fielen keine weiteren Worte ein. Das Blut gefror in seinen Adern und seine sowieso schon steifen Gliedmaßen schienen nun endgültig zu erstarren.

„Ich bin hierhergekommen, um Dir meine Dienste zu erweisen, Du solltest hören, was ich Dir zu bieten habe.“ Der greise Mann verstand nicht.

„Wie- wie nur könnte ich Anspruch auf Ihre Dienste haben, wo-womit hätte ich, altes, krauses Männlein, das verdient?“

„Deine Seele ist es wert, durch Dein bedingungsloses Bestreben nach Glück, mein Angebot anzunehmen. Ich biete Dir an, Dich von Deiner Last, dem Bösen in Dir, zu befreien. Ab dann müsstest Du nie wieder Fehler befürchten oder bereuen; Wut, Hass, Groll wären Dir ebenso fremd wie Selbstzweifel und Enttäuschung. Du wärst frei von jeglicher Ambivalenz, frei von Deinen Schatten. Sage mir, ist es nicht das, wonach Du Dich lebenslang verzehrt hast?“

Der Alte hatte keine Worte für das, was er in diesem Moment verspürte. Sein ganzes Leben verfolgte er nur ein Ziel und scheiterte kläglich, immer und immer wieder. Dieses Wesen war ein Zeichen dafür, dass seine Mühen nicht umsonst waren, ja auch, dass sein Leben keine Verschwendung war! In diesem Augenblick spürte er solch eine Explosion an Freude und Stolz, dass er sich hinsetzen musste; seine schwachen Beine konnten ihn nicht mehr halten.

Trotz aller Begeisterung zweifelte ein Teil des greisen Herrn. Er musste noch eine Frage aussprechen.

„Was ist…, wenn ich mir alles nur einbilde?“

Wäre dem so, dann sollte dies sein letzter Tag gewesen sein, das schwor er sich. Er konnte nicht mehr. Er war ausgelaugt, müde, am Ende seiner Kräfte; wäre dies nur ein Spiel seines Unterbewusstseins, so würde er nicht noch weiter darum kämpfen, einen unmöglichen Traum wahr werden zu lassen.

Das Lachen der Kreatur hallte an unsichtbaren Wänden wider. Es war wie ein dissonantes Kreischen; der Mann wollte seine Ohren zuhalten, aber unterließ es aus Angst wegen der Konsequenzen.

„Ich bezweifle, dass Deine kümmerliche Seele imstande ist, durch eigene schöpferische Kraft ein Geschöpf, wie mich entstehen zu lassen. Also lass Dich positiv überraschen und trete näher.“

Nach kurzer Abwägung über eine potenzielle Gefahr, gab der Alte nach, stand ächzend auf und ging auf das Wesen zu. Er wollte tief durchatmen, da wurde er bereits von einem Sog erfasst. Dieser zog und zog an ihm, sodass die Knie des Mannes nachgaben und er wie ein nasser Sack zu Boden fiel. Sein Herz pochte und sein Atem ging hektisch. Der Mann verfiel in Panik, seine urmenschlichen Instinkte setzten ein und er wollte fliehen. Nur konnte er nicht. Er war kraftlos und selbst das Atmen wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer. Vor Entsetzten keuchte er.

So plötzlich wie der Wirbel kam, verschwand er auch wieder. Zurück blieb nur noch der schwer atmende Mann auf dem Boden und eine Leere, die den gesamten Raum einzunehmen schien. Die dunkle Gestalt war spurlos verschwunden. Es blieb einzig das dumpfe Gefühl der Unvollkommenheit, ein Gefühl der Einsamkeit, das mit jeder Sekunde verblasste, mit der er nach Atem rang.

Als der Mann bemerkte, dass er seine Augen fest zukniff, öffnete er sie. Zuerst erkannte er nichts, aber langsam gewöhnten seine Augen sich an die Dunkelheit und er konnte die Umrisse von Vertrautem erkennen. Der Mann kniete nicht etwa in einem unbekannten Saal, nein, er war zu Hause, neben seinem trostlosen Bett, vor seinem abgenutzten Nachttisch mit abgestandenem Wasser. Der Mann griff hastig nach dem Glas und trank gierig. Er fragte sich, ob sein Erlebnis wirklich etwas verändert hatte, aber der Morgen sollte dies zeigen.

Kaum aufgewacht, erinnerte er sich Stück für Stück an den gestrigen Traum, mit ihrer Absurdität. Der Alte schlug die Decke zur Seite und stand auf wackeligen Beinen auf. Er wollte nun endlich die Veränderung wahrnehmen.

Als er an den helllichten Tag trat, fühlte sich Besagter rein und frei, wie seit langem nicht mehr. Eigentlich so, wie in seinem ganzen noch Leben nicht. Es war wahr, sein Traum wurde wahr! Er war jetzt nur noch die Licht-Liebe-Version seiner selbst, mehr hatte er sich niemals gewünscht. Und es fühlte sich großartig an, einfach richtig.

Es vergingen Wochen, wenn nicht Monate, als sich der Mann änderte. Die Lücke seiner Seele wurde immer größer und nichts konnte sie füllen. Langsam, aber sicher, verließ ihn das Gefühl wahrer Freude, er hatte ja keinen Grund mehr, sein Leben war fantastisch; er war fantastisch. Der Alte hatte aufgehört sein Leben wertzuschätzen, das Positive war ja der Dauerzustand, etwas Selbstverständliches.

Wo auch immer er hinging, seine lichtvolle Seele stellte jeden in die Schatten. Die Menschen konnten diesen Umstand nicht ertragen und so floh jeder vor ihm, einer nach dem anderen.

Wie konnte so etwas Gutes, wie der Mann erst gedacht hatte, sich zu so etwas Schlechtem entwickeln? Diese Frage könnte der Alte selbst nicht beantworten, dafür hatte er die Fähigkeit verloren zu sagen, was gut und was schlecht ist. Aber ein einziges Mal, da konnte er es.

Es lag an der Art, wie die Frau ihn von der gegenüberliegenden Bank ansah, es lag an ihren hellen Augen, die vor Weisheit zu glühen schienen. Sie war wie ein Engel, eine wahre Lichtbringerin, umgeben von einem nichtexistierenden und doch sichtbaren Heiligenschein. Sie war das Ergebnis, das sich der Mann sein Leben lang gewünscht hatte.

Was ist dein Geheimnis, die Worte formten sich automatisch in seinem Kopf. Und als ob die Frau verstand, was er im Moment dachte, lächelte sie. Dann stand sie auf und ging mit bedächtigen Schritten auf ihn zu.

„Zilla“, ihre Stimme war wie das Kitzeln warmer Sonnenstrahlen auf der Haut. Sanft und klar zugleich. Zilla wunderte sich nicht darüber, dass sie seinen Namen kannte. Er wunderte sich über gar nichts mehr.

Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und starrte hinaus auf den Tumult des Marktplatzes.

„Erzählen Sie mir ihr Geheimnis“, forderte Zilla ohne weitere Erklärung.

Die Frau lächelte wieder und wusste genau, was er meinte.

„Weißt du, eigentlich ist es kein Geheimnis. Ich bin etwas enttäuscht, dass du nach all den Jahren nicht von selbst darauf gekommen bist.“

Beide schwiegen, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Schließlich schüttelte Zilla den Kopf. „Nein, ich kann nicht darauf kommen. Bitte hilf mir.“

Die Dame seufzte. „Stell dir eine Münze vor. Es besteht aus zwei Seiten, beide gegensätzlich und doch ergänzen sie sich. Nur zusammen bilden sie die Gesamtheit, eben die Münze. Auch in der Natur finden wir das Phänomen wieder. So wie es den Tag gibt, haben wir auch die Nacht; so wie wir Licht sehen, existiert auch die Dunkelheit. Wie konntest du nur denken, dass es bei uns Menschen anders ist?“ Sie legte ihren Kopf schief.

„Wir sind mal dazu verdammt, Trauer und Wut zu spüren, mal dazu gesegnet, Freude und Glück zu erleben; erst zusammen ergibt es ein erfülltes Leben. Trotzdem hast du einen Anteil davon verleugnet. Du hast nur eine Seite der Münze betrachtet und als die andere Seite zu Vorschein kam, wolltest du sie vernichten. Nur hast du dabei nicht beachtet, dass auch deine Lieblingsseite zerstört wird.“ Sie seufzte ein weiteres Mal.

„Es tut mir leid, Zilla. Deiner Münze kann man nicht mehr helfen, sie ist nur noch ein plattes Stück Metall.“

Zilla drehte sich zu ihr um, aber die mysteriöse Dame war verschwunden. Es blieb einzig das dumpfe Gefühl der Unvollkommenheit, ein Gefühl der Einsamkeit.

Von Esra Toca

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