Ein Pferd ist kein Auto, kein Fahrrad, kein Rasenmäher. Aber oft behandeln wir es genau so. Als praktisches Fortbewegungsmittel mit Herzschlag, als lebendige Kulisse für Instagram-Fotos oder als therapeutisches Werkzeug, das bitteschön nicht widersprechen soll. Wir reden von Freundschaft, während wir führen, fordern und festzurren. Ein Lebewesen, das uns seit Jahrtausenden begleitet, das Felder pflügte, Kriege trug, Könige erhob – und das heute, zwischen Kinderreitkurs und Turnierambitionen, oft vor allem eines ist: nützlich.

Es fängt ganz harmlos an. Das Kind wünscht sich Reitstunden, lernt putzen, führen, traben. Die Eltern freuen sich über ein Hobby an der frischen Luft. Dann wird ein Pflegepferd draus, später vielleicht ein eigenes. Und plötzlich wird das Tier zum Zentrum eines Lebens – aber oft nicht seines eigenen. „Meiner ist ganz brav“, hört man auf dem Hof. „Der macht alles mit.“ Meist sagt niemand, was das eigentlich bedeutet. Dass „brav“ oft ein stilles Ertragen meint. Dass „macht alles mit“ auch heißen kann, dass sich das Pferd längst aufgegeben hat.

Dabei war das Pferd nie für uns gedacht. Nicht als Reittier, nicht als Sportgerät, nicht als Projektionsfläche unserer Sehnsüchte. Es war ein Fluchttier, das vor Jahrtausenden über weite Steppen galoppierte, sich mit Wind und Wetter arrangierte, Herden suchte und Gefahren mied. Heute steht es eingesperrt in Boxen, wird einzeln gehalten, bekommt strukturlose Mahlzeiten aus dem Futtersack und darf sich bestenfalls stundenweise auf Paddocks die Beine vertreten – sofern das Wetter und der Zeitplan es zulassen. Bewegung nach Plan, Sozialkontakte nach Vorschrift.

Und trotzdem: Das Pferd folgt uns. Immer noch. Weil es gelernt hat, dass Kooperation überlebenswichtig ist. Weil es uns nicht hinterfragt, sondern liest – unsere Körpersprache, unsere Unsicherheit, unsere Launen. Ein Pferd kennt uns, lange bevor wir es „kennengelernt“ haben. Und es passt sich an. So sehr, dass wir oft gar nicht merken, wie unwohl es sich fühlt. Dass es Schmerzen hat, Angst, Stress – oder einfach: keine Lust. Wer hört schon auf ein Tier, das nicht sprechen kann?

Die Wissenschaft kann das inzwischen. Sie misst Cortisol im Speichel, analysiert Ohrenstellungen, Bewegungsmuster, Muskelverhärtungen. Sie weiß, dass 20 Minuten falsch sitzender Reiter mehr Schaden anrichten können als ein Galopp durch Matsch. Sie weiß, dass chronischer Stress das Immunsystem schwächt, dass die Psyche des Pferdes ebenso leidet wie der Körper, wenn wir zu viel wollen – oder zu wenig geben. Aber während Studien auf Kongressen zitiert werden, ruckelt draußen der Hänger weiter über die Landstraße zum nächsten Turnier. Weil der Zeitplan eng ist, weil das Pferd ja „eh nichts dagegen hat“, weil man schließlich viel Geld bezahlt hat.

Und dann gibt es da die anderen. Die, die sich Sorgen machen, ob das Pferd zu dünn ist, ob es sich langweilt, ob es wirklich Freude am Training hat. Die nachts noch mal rausfahren, weil das Tier bei Gewitter nervös wird. Die sich anhören, sie würden vermenschlichen, dabei eigentlich nur verstehen wollen. Es sind oft genau diese Menschen, die irgendwann beginnen, umzudenken. Die sich fragen, ob ihr Pferd noch ihr Partner ist – oder längst ein stiller Gefangener.

Denn genau das ist der Punkt: Das Pferd ist nicht das Problem. Es ist der Spiegel. In seinem Blick liegt oft mehr Wahrheit über uns, als wir ertragen wollen. Wer lernt, ein Pferd wirklich zu lesen, beginnt auch sich selbst anders zu sehen. Wer Geduld zeigt, statt Dominanz zu fordern, entdeckt plötzlich eine Beziehung, die nicht auf Kontrolle basiert, sondern auf Vertrauen. Und Vertrauen – das kann man nicht kaufen. Nicht mit Futter, nicht mit Führstricken aus Diamant. Das muss man sich verdienen. Mit Zeit. Mit Respekt. Mit einem echten Willen zur Freundschaft, die nicht von Nutzen abhängt.

Vielleicht ist es genau das, was uns das Pferd heute noch lehrt: Dass es eine Stärke ist, weich zu sein. Dass Zuhören mehr bewirkt als Anweisen. Und dass Freundschaft nicht darin besteht, wie viel ein anderer für uns tut – sondern wie gut wir ihn sein lassen, wie er ist. Auch wenn er vier Beine hat. Auch wenn er heute nicht laufen will. Auch wenn wir dann mal nicht gewinnen.

Pferd und Mensch – das ist keine Geschichte von Heldentaten. Es ist eine von Missverständnissen, Machtverhältnissen und stiller Hingabe. Eine Beziehung, die immer wieder neu erfunden werden muss. Vielleicht sind wir noch keine guten Freunde. Aber es ist noch nicht zu spät, einer zu werden.


Von Selma Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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