Es gibt Dinge im Leben, die so alltäglich erscheinen, dass wir ihnen kaum Beachtung schenken. Ein Beipackzettel in der Tablettenschachtel, eine Bewerbung, die geschrieben werden muss, ein Formular beim Arzt oder der Hinweis an der Bushaltestelle, dass der Fahrplan geändert wurde. Für viele sind das Mini-Aufgaben, die zwischen Tür und Angel erledigt werden. Für andere sind es Hürden. Stolpersteine. Manchmal sogar Wand.

Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen leben in einer Welt, in der Worte wie Fallen funktionieren. Ein kurzer Brief vom Amt kann Panik auslösen, weil man nicht versteht, was man tun soll. Der Antrag auf Sozialleistungen bleibt liegen, weil er aussieht wie ein Labyrinth. Und die Mutter, die ihrem Kind in der Grundschule nicht bei den Hausaufgaben helfen kann, fühlt sich klein in einem System, das davon ausgeht, dass alle mitlesen können.

Es ist ein unsichtbarer Stress, den man diesen Menschen oft nicht ansieht. Sie lachen mit, machen sich Notizen, nicken – und verstehen doch nicht wirklich, was gerade gesagt oder verlangt wurde. Die Scham sitzt tief. Man sagt nicht einfach: „Ich kann das nicht lesen.“ Man sagt: „Ich hab die Brille vergessen“ oder „Ich les das später in Ruhe“. Was nach einer Kleinigkeit klingt, ist in Wahrheit ein ständiger Kampf, nicht aufzufallen – und sich gleichzeitig in einer Welt zurechtzufinden, die aus Buchstaben, Symbolen und Formularen besteht.

Und dieser Druck hinterlässt Spuren. Psychisch. Emotional. Körperlich. Wer jeden Tag mit der Angst lebt, etwas falsch zu machen, etwas nicht zu verstehen, ausgelacht oder überfordert zu werden, lebt im Dauerstress. Das Herz schlägt schneller, der Magen drückt, der Schlaf wird unruhig. Nicht selten entwickelt sich aus diesem ständigen Alarmzustand eine ausgewachsene Belastungsstörung. Wer jahrelang mit dem Gefühl lebt, den Anforderungen der Welt nicht gewachsen zu sein, fängt irgendwann an, sich selbst zu verlieren.

Die Forschung schaut mittlerweile genauer hin. Nicht, weil Zahlen so spannend wären, sondern weil es höchste Zeit ist. Neue Erkenntnisse zeigen: Erwachsene mit geringer Lesekompetenz haben ein deutlich höheres Risiko, an posttraumatischer Belastungsstörung zu leiden. Sie fühlen sich weniger widerstandsfähig gegenüber Stress, zweifeln häufiger an sich selbst und sind psychisch angreifbarer als andere. Kein Wunder – wenn man sich Tag für Tag durch eine Welt bewegen muss, in der man immer wieder das Gefühl hat, nicht mitzukommen.

Aber es geht hier nicht nur um Statistik. Es geht um die Kassiererin, die sich nicht traut, nach der Weiterbildung zu fragen, weil sie fürchtet, dort Texte lesen zu müssen. Es geht um den jungen Vater, der keine Geschichten vorliest, sondern sich lieber hinter Ausreden versteckt. Es geht um die Rentnerin, die ihre Medikamenten-Dosierung lieber rät als liest. Sie alle brauchen keine Mitleidsgesten. Sie brauchen echte Unterstützung – und eine Gesellschaft, die nicht automatisch davon ausgeht, dass jeder das Kleingedruckte versteht.

Lesen und Schreiben sind mehr als Werkzeuge für Schule und Arbeit. Sie sind Zugangsschlüssel zur Welt. Wer sie nicht hat, lebt mit der ständigen Angst, draußen zu bleiben. Und genau hier liegt der Schlüssel: Es geht nicht darum, Menschen mit geringer Lesekompetenz zu belehren, sondern ihnen das Gefühl zu geben, dazuzugehören. Angebote so zu gestalten, dass sie nicht ausgrenzen. Lernräume zu schaffen, in denen niemand ausgelacht, sondern gesehen wird. Denn wer sich verstanden fühlt, öffnet sich. Und wer sich öffnet, lernt.

Vielleicht ist es Zeit, nicht nur über die Wichtigkeit des Lesens zu sprechen, sondern über das, was es mit einem Menschen macht, wenn man nicht lesen kann. Stress ist nicht immer laut. Manchmal zeigt er sich in einem leisen Rückzug, in einem flüchtigen Lächeln, in der Taktik, Aufgaben zu vermeiden. Doch hinter all dem steckt der gleiche Wunsch, den wir alle haben: verstanden zu werden – und endlich mitreden zu dürfen.

Und genau da beginnt Veränderung.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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