Stellen Sie sich Sarah und Tom vor. Ein junges Paar, das sich in einem Café kennenlernte. Jeder Blick, jedes Gespräch zwischen ihnen schien elektrisch geladen. Sie konnten sich stundenlang unterhalten, verloren sich in den Augen des anderen und waren fasziniert von den kleinsten Eigenheiten des jeweils anderen. Sie sahen in ihren Partner zu 80% all das, was sie an einem Menschen lieben konnten. Ja, es gab kleine Macken und Fehler, aber das machte nur 20% aus. Und diese 20% waren leicht zu übersehen, denn die verbleibenden 80% waren überwältigend.

Jahre vergingen, und sie versprachen sich, ein Leben lang füreinander da zu sein. Doch mit der Zeit, kamen Alltagssorgen, Routine und die Tücken des Lebens ins Spiel. Das Lachen und die ausgedehnten Gespräche wurden seltener. Statt Komplimenten gab es nun häufiger Kritik.

Wie konnte es soweit kommen? Was war mit ihnen denn geschehen?

Die Realität ist, dass sich bei vielen Paaren mit der Zeit der Fokus verschiebt. Die einst geliebten 80% geraten in den Hintergrund, und die 20%, die kleinen Macken und Fehler, rücken immer stärker in den Vordergrund. Das, was einst leicht zu übersehen war, wird nun zum Mittelpunkt des täglichen Lebens. Jede Kleinigkeit wird analysiert und kritisiert. Der Alltag lässt uns vergessen, warum wir uns ursprünglich in den anderen verliebt haben.

Doch muss das so sein? Müssen wir wirklich zulassen, dass der Alltag unsere Wahrnehmung trübt?

Bevor wir uns einer Antwort zu dieser Frage widmen, betrachten wir das Ganze einmal aus wissenschaftlicher Sicht. Die Dynamik von Paarbeziehungen ist komplex und ständig im Wandel begriffen, und doch gibt es gewisse Muster, die im Laufe der Zeit bei vielen Paaren erkennbar werden. Ein solches Muster ist das Phänomen, dass Menschen, die sich einst innig liebten, sich plötzlich in einem Zustand wiederfinden, in dem sie sich eher kritisch oder gar negativ gegenüberstehen.

Doch wie kommt es zu dieser signifikanten Veränderung?

Wissenschaftliche Studien im Bereich der Beziehungspsychologie haben gezeigt, dass mit der Dauer einer Beziehung das sogenannte „rosarote Brille“-Phänomen abnimmt. In der Anfangsphase einer Beziehung sind wir dazu geneigt, unseren Partner idealisiert wahrzunehmen, wodurch positive Eigenschaften überbetont und negative Eigenschaften ausgeblendet oder minimiert werden. Dies ist teilweise durch eine erhöhte Ausschüttung bestimmter Hormone, wie zum Beispiel Oxytocin, bedingt, das oft als „Kuschelhormon“ bezeichnet wird und das Gefühl von Nähe und Verbundenheit fördert.
Mit der Zeit und mit der Etablierung des Alltags in einer Beziehung nimmt diese hormonelle Flut ab. Die realen Charaktereigenschaften des Partners treten klarer hervor, und das, was früher als charmante Eigenheit wahrgenommen wurde, kann nun als störende Macke interpretiert werden. Dazu kommt, dass das menschliche Gehirn dazu neigt, negative Erfahrungen stärker zu gewichten als positive – ein Überbleibsel aus unserer evolutionären Geschichte, das uns dabei half, Gefahren zu erkennen und zu vermeiden.
Das Problem dabei ist, dass, sobald dieser Fokus auf den negativen Aspekten liegt, eine Art Feedbackschleife entsteht. Jede weitere negative Handlung oder Eigenschaft des Partners wird stärker wahrgenommen und verstärkt die bereits vorhandene negative Sichtweise. Das, was einst 20% ausmachte, kann so gefühlt zu 80% werden und umgekehrt.
Aber wie kann man diesem Muster entgegenwirken? Die kognitive Verhaltenstherapie, eine der prominentesten Therapieformen in der Psychologie, bietet hier Ansatzpunkte. Sie legt den Fokus darauf, bewusst die eigenen Gedanken und Bewertungen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu korrigieren. Es geht darum, sich aktiv daran zu erinnern, warum man sich einst in den Partner verliebt hat und welche positiven Eigenschaften er hat. Gleichzeitig gilt es, kleine Gesten der Wertschätzung in den Alltag zu integrieren, die das Gefühl der Wertschätzung und Zuneigung stärken. Mit bewusster Anstrengung und Reflexion können Paare lernen, die 80%-20%-Dynamik zu ihrem Vorteil zu nutzen und eine dauerhafte, liebevolle Beziehung zu pflegen.

Schlussfolgernd können wir nun auf die obige Frage ein klares Nein als Antwort geben. Denn wir können es abwenden, dass der Alltag unsere Wahrnehmung trübt. Schließlich liegt es an uns, diese negative Perspektive, falls sie schon eingetreten ist, wieder zu ändern oder sie gar nicht erst zuzulassen, wenn wir uns noch in der anfänglichen verliebten Phase unserer Beziehung befinden. Wir müssen uns bewusst machen, dass die 80% immer noch da sind und immer da sein werden. Sie gehen nicht verloren, sie verschwinden nicht, sondern sie wurden oder werden mit dem Alltag nur übersehen. Wir müssen lernen, die kleinen Dinge wieder wertzuschätzen. Ein Lächeln, eine nette Geste oder ein liebevolles Wort können Wunder bewirken. Es geht darum, sich jeden Tag bewusst zu machen, warum man den anderen liebt.

Erinnern Sie sich zurück, an den Anfang, an die Aufregung, an die Faszination. Lassen Sie nicht zu, dass die 20% Ihren Blick auf die 80% trüben. Lassen Sie Liebe, Respekt und Wertschätzung wieder zu den Hauptakteuren Ihrer Beziehung werden. So kann man verhindern, dass die Liebe im Alltagstrott verloren geht und stattdessen eine tiefe, beständige Liebe pflegen, die den Stürmen des Lebens standhält.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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